Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Titel: Rückwärtsleben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
Vom Netzwerk:
schlechten Ruf festigte und seine Geliebte, unsere Rektorin Mrs. Kean, zu einem wilden sexuellen Rachefeldzug anspornte).
    Heute, da diese seltsame Mittagsverabredung selbst ein Schnipsel aus der Vergangenheit ist, über das ich aus einem Abstand von neun Jahren berichte, ist die Intensität meiner ersten Reaktion auf Lily für den älteren, dumpferen Peter Kristal kaum mehr nachvollziehbar. Der Rückblick aus heutiger Sicht ist wie die Wiederbegegnung mit dem Pilotfilm einer Lieblingsfernsehserie, der die Figuren noch als Unbekannte vorführt. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob es die Sache mit Lady Macbeth war, die mich dazu veranlasste, eine direkte Verbindung zu ziehen zwischen dem Mädchen, das mich in der Schule umgehauen (und das ich auf andere Art ebenfalls umgehauen) hatte, und der Schauspielerin, die mit mir am Tisch saß. Wenn mein Gedächtnis zuverlässig und ehrlich ist – was beides nicht unbedingt zutreffen muss –, war die Erklärung nicht einfach das Wiederaufflammen einer Teenagerliebe, die selbst damals nicht mit völliger Überzeugung gebrannt hatte. Es war etwas Komplexeres an dem Zauber, den beide auf mich ausübten, wobei dies allerdings eher auf die dauerhafte Verwirrung meiner Gefühle zurückzuführen war als auf eine spirituelle Verwandtschaft.
    Wie auch immer, keine fünf Minuten nach Lilys Ankunft lief ich bereits Gefahr, gegen das goldene Gebot meines Berufs zu verstoßen: Lass dich nicht zu sehr hineinziehen. (Je nach dem Grad ihres Zynismus sprechen Seelenklempner auch davon, dass man den Patienten nicht zu nahekommen darf, dass ihre Probleme nicht deine Probleme sind und – wie es mein bodenständiger Kollege Simon Stacy ausdrückte – dass man lernen muss, keinen Anteil zu nehmen.) Doch 1986 vertraute ich noch völlig auf meine Fähigkeit, die Fallstricke persönlicher Verwicklung zu vermeiden. Ich wollte meine Arbeit machen und dafür sorgen, dass Lily mehr von sich verriet als umgekehrt; und wenn dabei eine persönliche Bindung entstand, dann nur zu meinen Bedingungen. Ich brauchte nur ein wenig Zeit.
    Tatsächlich hatte ich alle Zeit der Welt, denn als die Mittagszeit nach einem letzten Aufbäumen ausklang, wurde deutlich, dass Lily es mit dem Aufbrechen nicht eilig hatte und sich gern mit mir unterhielt. Schon kurz nach Beginn unseres Treffens einigten wir uns darauf, uns zu duzen, und eine Dreiviertelstunde lang war sie es, die mich ausfragte nach meinen (wenigen und langweiligen) Fernsehauftritten, meiner Rolle im Fall Patsy DiMarco und zuletzt nach unserer offenkundigen Gemeinsamkeit Großbritannien. Zum ersten Mal seit vielen Monaten begegnete ich jemandem, dessen Gesellschaft mir Freude bereitete, und ich hatte das Gefühl, dass das der Beginn einer echten Freundschaft war. Es kostete mich große Anstrengung, die Unterhaltung auf ihre Probleme mit der Aufführung von Macbeth zu lenken. Kaum hatte ich das Wort »Lampenfieber« ausgesprochen, wurde mir klar, dass ich einen Fehler gemacht hatte.
    Ihre Stirn umwölkte sich, das Zappeln der Beine unter dem Tisch hörte auf, die Schultern hoben und senkten sich zu einem höflichen Seufzer. »Immer reden die Leute von Lampenfieber.« Mit plumper Hast entschuldigte sie sich für ihren gereizten Ton. »Ich finde es einfach ein wenig beleidigend … nicht dass ich mich von dir beleidigt fühle, aber … aber wenn die Leute meinen … Andererseits ist das auch irgendwie verständlich, oder?«
    Zum ersten Mal wusste sie nicht mehr weiter, die Worte gingen ihr aus. Um die peinliche Situation zu überspielen, brachte sie das Gespräch auf weniger heikle Aspekte der Aufführung, etwa die persönlichen Gewohnheiten von Direktor Julian (angeblich ein Transvestit) und die nicht besonders glücklich gewählte russische Szenerie. Doch ich war jetzt auf der Enthüllungsfährte und erkundigte mich in möglichst geschäftsmäßigem Ton nach ihrer Sicht der jüngsten Panikattacken.
    »Eigentlich kann ich gar nicht beschreiben, was passiert ist.« Lilys Lächeln war ein wenig ermattet. »Es ist nicht so, dass ich Angst davor hätte, auf die Bühne zu gehen oder dem Publikum gegenüberzutreten oder meinen Text vergessen zu haben oder so was.« Sie kam wieder in Fahrt. »Das wäre Lampenfieber. 14 Und das hatte ich noch nie. Ich habe mit elf vor achthundert Zuschauern im National Youth Theatre Jeanne d’Arc gespielt. Ich war in dem Film Mr. Imperfect , der einen Umsatz von fünfundfünfzig Millionen Dollar gemacht hat, und jeder der

Weitere Kostenlose Bücher