Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
Richard war. An meiner Ehrfurcht vor Jennifer hatte sich zwar nichts geändert, aber ich hatte sie, wenn nicht verborgen, so doch kompetent in den Griff bekommen. Jennifer meinte, dass sie den folgenden Abend gar nicht mehr erwarten konnte. Nachdem ich ihr angeboten hatte, sie nach Hause zu bringen (dafür bestand kein Anlass, weil sie ganz in der Nähe wohnte, aber ich wollte nicht wegen einer kleinen Formsache durchfallen), wünschte ich ihr eine gute Nacht. Wenn ich es mir nicht noch verscherzte, sollte ich in weniger als vierundzwanzig Stunden Gelegenheit haben, neben ihr auf der Bühne zu stehen und sie zumindest eine kurze Zeit lang wie meine Liebste zu behandeln.
In dieser Nacht war es heiß, und immer wieder drangen seltsame, undeutliche Geräusche durch das kleine Fenster, das in der vergeblichen Hoffnung auf ein wenig frische Luft offen stand. Ich flatterte zwischen Träumen hin und her, in denen ich meinen Text vergessen hatte, zum falschen Zeitpunkt auf die Bühne kam und niedergeschossen wurde von Mr. Paulson, der seinem sanftmütigeren mathematischen Kollegen die Kontrolle über die Inszenierung entrissen hatte.
In den langen Pausen zwischen den Akten dieses verwickelten Traumspiels veränderte ich ungefähr viermal pro Minute meine Position, um vielleicht doch wieder zurück in den Schlaf zu gleiten, während es draußen schon dämmerte, und in meinem Kopf nahm eine völlig andere Abfolge der Ereignisse Gestalt an:
Ich gebe Richard das Spray.
Aus Dankbarkeit sieht sich Richard gezwungen, mir die Rolle zu überlassen, wenn auch nur (sagen wir) für drei von sechs Aufführungen.
Ein doppelter Sieg: Stolz auf selbstloses Handeln ohne die Bitterkeit echter Selbstaufopferung; drei Auftrittsmöglichkeiten mit einem guten Gewissen.
Und Richard bekommt immer noch drei Aufführungen mehr als ohne das Spray.
Alle gewinnen.
Doch die Sache hatte einen Haken: War Richard tatsächlich bereit, mir den gerechten Lohn für die Herausgabe des Sprays zuteilwerden zu lassen, oder war sein Ehrgeiz stärker als seine Großzügigkeit? Ein kleines Gefangenendilemma: Wird er richtig handeln, wenn ich es auch tue? Oder soll ich falsch handeln, um mich nicht von ihm abhängig zu machen? Als draußen die zwitschernden Vögel das Ende einer kaum begonnenen Nacht verkündeten, wurde mir klar, dass ich vor einer schlichten Wahl stand: Entweder ich nahm das Spray mit zur Schule und gab es Richard, oder ich tat es nicht.
Doch wie so oft, wenn das Leben eine schwere Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten von mir forderte, löste ich das Problem mit einem Kompromiss, der in einem nicht existenten Niemandsland angesiedelt war. Um halb acht verkündete mein benommenes Gehirn bei einem Frühstück, das ich nicht essen konnte, seinen Entschluss: Ich sollte das Spray mit in die Schule nehmen, aber in der Tasche verstecken und mich entscheiden, sobald ich Richard sah. Dann konnte entweder das Schuldbewusstsein oder die Gier den endgültigen Schlag führen.
Schon als ich das Schultor erreichte, erkannte ich die Löcher in meinem Plan, doch ohne mich damit aufzuhalten, schlenderte ich auf Richard zu, der sich gerade über irgendein Thema verbreitete; er war leicht an den Scharen zu erkennen, die sich um ihn drängten. Ich spürte, wie sehr ich ihn mochte, und musste einsehen, dass ihn zu täuschen fast genauso schmerzlich für mich war, wie nicht an dem Stück mitwirken zu können. Als ich mich näherte, wirbelten drei oder vier seiner Zuhörer herum und platzten mit den Neuigkeiten heraus:
»Jennifer ist nicht da. Sie hat in der Nacht vierzehn Mal gekotzt.«
»Sechzehn Mal, hab ich gehört, aber wahrscheinlich geht das gar nicht.«
»Sie muss eine Woche lang im Bett bleiben.«
»Die Aufführung ist abgesagt.«
Neun oder zehn funkelnde Augenpaare musterten mich erwartungsvoll, erfüllt von der Erregung jener, die schlechte Nachrichten überbringen. Jemand lachte sogar höhnisch, um mich zu provozieren. Richards Blick sprach Bände: Tut mir leid, dass du es auf diese Weise erfahren musstest. Doch bei mir kam das alles gar nicht an: Ich war wie betäubt. Schon bald verloren die Nachrichtensprecher das Interesse und zogen weiter, um die Kunde zu verbreiten. Mit leerem Blick starrte ich über den Schulhof.
Für Lady Macbeth gab es keine Zweitbesetzung. Eigentlich war Maggie Francis dafür vorgesehen gewesen, doch sie hatte es als demütigend empfunden, die Rolle einer anderen zu studieren und auf Brosamen vom Tisch des Zufalls zu
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