Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
Guggenheim-Parcours vielfältiger Nacktbilder sicher längst allein in Angriff genommen hatte und sich wohl fragte, ob ich im New Yorker Bermudadreieck der Verbrechensopfer verschwunden war. Als mich Lily noch zu einem Glas Wein in ihre Wohnung einlud – an diesem Abend gab es keine Aufführung –, schien dies nicht nur ein logischer, sondern ein unvermeidlicher Schritt. Mit einer kindlichen Begeisterung, die sich manchmal aus der Verdrängung löste und sich sogar in einem träge schlagenden Herzen wie meinem bemerkbar machte, sagte ich mir immer wieder, dass sich große Freundschaften aus anfänglich spontanen Abenteuern wie diesem ergaben. Die normalerweise beherrschende rationale Seite meines Bewusstseins blieb stumm.
Ihr Apartment war mit einfallsreich ausgerichteten Glühbirnen in gedämpften Farben stimmungsvoll beleuchtet und mit »ethnischen« Gegenständen geschmückt – chinesische Papierlampen, Buntglasschüsseln mit geheimnisvoll schimmernden Perlen, offenbar handgemachte Musikinstrumente –, die geschickt verteilt waren, um einen Eindruck von Geräumigkeit und zugleich Gemütlichkeit zu vermitteln. In den Neunzigerjahren sollte dieser Stil die Bezeichnung Dritte-Welt-Schick erhalten, doch im Jahr 1986 war Lily damit ihrer Zeit voraus. Gelegentlich wurde das Raffinement der Einrichtung durch etwas Ungereimtes aufgelockert wie zum Beispiel das Poster in ihrer Küche, auf dem stand: MAN MUSS NICHT VERRÜCKT SEIN , UM HIER ZU ARBEITEN – ABER ES HILFT ! Unter dieser knallroten Überschrift sah man das berühmte Foto von Arbeitern beim Mittagessen auf einem Metallgerüst hoch über New York; allerdings war es manipuliert worden, und einer der Männer verdrehte in einer derben Karikatur von Irrsinn grinsend die Augen. Kaum hatte ich beim Anblick dieses fröhlichen Machwerks unwillkürlich eine Grimasse gezogen, da entschuldigte sich Lily schon dafür. »Das ist ein Geschenk von Julian, deswegen kann ich es nicht abnehmen, und das sagt ja eigentlich alles, weil niemand in der Küche Poster aufhängt.« Tatsächlich passte alles andere in seiner Widersprüchlichkeit mit unbefangenem Charme zusammen. Auf ihrem Bücherregal lehnten Snoopy-Alben und Showbiz-Autobiografien neben Bänden über synkretistische Religionen und den Werken östlicher Philosophen; die Flaschen in der Hausbar wiesen genau das richtige Maß zwischen Exzess und Askese auf; das gesamte Bad glänzte, als wäre es erst am Morgen installiert worden. Das eklektische Ambiente wirkte wie die Wohnung eines schöpferischen Menschen in einem Film und erinnerte mich an Richards Räume in Harvard; doch hier hatten die Requisiten eines Lebens voller Anekdoten und Erfahrungen eine Aura der Authentizität und Selbstvertrauen. Vielleicht war auch das nur eine Pose, doch wenn, dann eine ziemlich überzeugende.
Ich genoss es, in dieser neuen Welt plötzlich im Mittelpunkt zu stehen, und spürte einen Stich von Eifersucht, als Lilys Anrufbeantworter zehn oder zwölf Nachrichten herunterspulte, einen Flickenteppich aus zumeist männlichen Stimmen, die sie einluden, »auf einen Sprung« in dem einen oder anderen weltstädtischen Restaurant vorbeizuschauen. Viele dieser Aufforderungen wurden mit so viel drolliger Begeisterung vorgetragen, dass ich sie als Witze deutete – ein weibisch wirkender Anrufer schwor, dass er sterben würde, wenn er sich nicht vor Ende der Woche mit Lily zum Kaffee treffen konnte –, doch keine brachte die Empfängerin zum Lachen, als sie Wein in hohe, dünne Gläser schenkte. Anscheinend waren ihr diese Botschaften zum größten Teil nur lästig. Bei einigen von ihnen seufzte sie matt, und zwei oder drei übersprang sie ganz.
»Ich weiß, das klingt furchtbar, aber diese ständigen Einladungen langweilen mich«, bemerkte Lily am Ende der Telefonmontage, nachdem sie sich die in der letzten Nachricht genannte lange Nummer aufgeschrieben und den Zettel in einer Schublade verstaut hatte, aus der er wahrscheinlich nie wieder zum Vorschein kommen würde. »Die Leute wollen mich gar nicht sehen, sie möchten nur aus erster Hand hören, was mit mir nicht stimmt. Das sind keine echten Freunde«, fügte sie hinzu, vielleicht weil ihr meine Überraschung aufgefallen war. »Meine echten Freunde sind großartig. Aber meine Bekannten in New York … Viele von ihnen sind so falsch. Ich bin so oft umgeben von Menschen und trotzdem einsam. Weißt du, was ich meine?«
Wieder hatte ich das Gefühl, sie ganz genau zu verstehen. Wie schon
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