Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
Macbeth einstellten, desto mehr sank Lilys Stern. Die drohende Entbindung von ihrer Rolle ließ zwar das Interesse der Medien kurz aufflackern, doch die Berichte zeigten sie zumeist in einem eher unfreundlichen Licht. Als ich am Tag zuvor ihren Agenten angerufen hatte, bekam ich nur zu hören, dass er »nicht an einem Gespräch über sie interessiert« sei. Obwohl ich die Möglichkeit nicht ausschließen konnte, dass sie in völlig überzogenener Form um die Gunst des Publikums buhlte, hatte ich das deutliche Gefühl, dass mehr hinter dieser Geschichte steckte, etwas, das im Bewusstseinsstrom ungesagt blieb.
»Ich weiß, die Leute meinen, ich mache nur aus irgendwelchen Gründen eine Szene.« Es war, als hätte Lily meine Gedanken gelesen. »Aber warum sollte ich das tun? Warum sollte ich einer anderen die Chance geben, sich meine Rolle zu schnappen? In dem Stück kriege ich genug Aufmerksamkeit, da muss ich nicht extra eine Krise kreieren.«
Mit der gewandten Musikalität einer großen Vortragskünstlerin ließ sie die »Kr«-Laute über die Zunge rollen, doch die Darbietung wurde von Donnergrollen und dem harten Peitschen von Tropfen an den Café-Fenstern übertönt. Mir fiel ein, dass es bei meinem letzten Aufenthalt im Freien noch sonnig gewesen war, und auf diese indirekte Weise erkannte ich, dass offenbar viele Stunden vergangen waren, seit ich das kleine Lokal betreten hatte, das sich jetzt wieder füllte, weil vorbeikommende Paare vor dem Regen Schutz suchten und den Eingang blockierten. Ich einigte mich mit Lily darauf, das Gröbste des Gewitters abzuwarten und einen neuen Termin zu vereinbaren. Fürs Erste sollte sie es mit einer kleinen Dosis Betablockern probieren, um die vor und bei Aufführungen aufsteigende Panik zu dämpfen. Um Lilys Vorliebe für Exotik zu entsprechen, schrieb ich den Namen eines neuen Präparats mit Fruchtgeschmack auf, musste allerdings feststellen, dass sie es bereits kannte. Anscheinend war ihr der praktische Umgang mit klinischen Angstzuständen alles andere als fremd, und ein Zyniker hätte vielleicht davon gesprochen, dass sie ihre Rolle gut vorbereitet hatte. Doch während draußen das Gewitter weitertobte, riss unser Gesprächsfaden nicht ab, und wir fanden viele andere interessante Themen.
Nach den Betablockern ergab sich zuerst eine lebhafte Diskussion über die Wirksamkeit von Antidepressiva (wie ein erstaunlicher Prozentsatz von Frauen insgesamt hatte Lily sie in ihren Zwanzigern fast durchweg genommen; ich hatte zu diesem Zeitpunkt nur berufliche Erfahrungen damit). Von dort gelangten wir nahtlos zu den größten Enttäuschungen, die wir erlebt hatten. Für Lily zählte dazu, dass sie eine Rolle in Der Stadtneurotiker verpasst hatte. Allerdings glaubte ich zu spüren, dass mehr der anhaltende Erfolg des Films an ihr nagte. Jedenfalls öffneten sich plötzlich die Schleusen, und wir kamen vom Hundertsten ins Tausendste. In einer Minute redeten wir über Phobien (auf Lilys Liste standen Fliegen, Türen mit Glasscheiben, große Wasserflächen, computergenerierte Stimmen, Eis, Bärte und Versagen) und in der nächsten über Kleider (Lily machte diskrete Andeutungen zur Verbesserung meines Erscheinungsbildes). Wir erörterten die jeweiligen Vorzüge der amerikanischen und der britischen Gesellschaft, überlegten, ob ein Leben in Japan vielleicht vorzuziehen wäre, und waren uns darin einig, dass es allemal ein Glück war, in einem zivilisierten Teil der Welt wohnen zu können. Ich erzählte Lily von meinen Blind-Date-Missgeschicken und ließ mich, als wollte ich die äußersten Tiefen der Unprofessionalität ausloten, auf ein pseudo-psychoanalytisches Rollenspiel ein, in dem ich eine dieser Katastrophen rekonstruierte. Als ich in der lächerlichen Pose eines glücklosen Liebhabers auf den Knien lag, forderte uns die mürrische Kellnerin, die mich schon seit acht Stunden mit bösen Blicken bedachte, in bestimmtem Ton zum Gehen auf.
Inzwischen hatte ich, ohne mich auch nur auf Betrunkenheit berufen zu können, die anerkannten Grenzen der Vertrautheit zwischen Arzt und Patient weit überschritten. Lily war nicht wie eine Patientin für mich, und mir fiel es immer schwerer, mich an meine Rolle als Seelenklempner zu halten. So beschwingt hatte ich mich schon seit ewigen Zeiten nicht mehr gefühlt, außerdem hatte ich sozusagen schon alle Brücken hinter mir abgebrochen, weil ich einer Klientin Persönliches über mich verraten und Richard versetzt hatte, der den
Weitere Kostenlose Bücher