Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
Zuschauer hat mich mit einem Muttermal am Kinn gesehen. Nein, ich habe kein Lampenfieber. Wie könnte ich? Julian sieht das anscheinend anders, bloß weil ich ein paar Jahre in keiner verdammten Broadwayaufführung gespielt habe. Die Kleine, die mich ersetzen soll, hält mich für eine verrückte alte Schachtel, weil sie dreiundzwanzigeinhalb ist und alles glaubt, was ihr die Leute vorkauen. Die Kollegen am Theater schauen mich an, und ich sehe, was sie denken: Zusammenbruch. Aber was wissen die davon, was in meinem Kopf los ist?«
Sie legte eine Pause ein, aber weniger, um Luft zu holen, als um einen rhetorischen Effekt zu erzielen. Dank ihrer Bühnenausbildung oder einer besonderen Gabe konnte sie mehrere hundert Worte pro Minute sprechen, ohne dabei Atem zu schöpfen. Ich nutzte die Unterbrechung für eine naheliegende Frage: »Und was ist in deinem Kopf los?«
Offenbar aus echter Bewunderung lachte sie, als hätte ich eine unglaublich geistreiche Bemerkung gemacht. »Bei meinen Auftritten in den letzten Wochen hatte ich so ein schreckliches Gefühl … keine Panik, oder vielleicht doch, aber nicht so, wie man in Panik gerät, wenn das Haus brennt, eher so eine starke Ahnung, dass ich nicht hier sein sollte. Ich spüre einfach, dass ich wegmuss. Ich fürchte mich. Es ist wie Klaustrophobie. Mich ärgert bloß, dass das ausgerechnet bei Macbeth passiert. Ich will nicht, dass die Leute meinen, ich falle auf diese ganze Geschichte mit dem Fluch rein. Ich meine, es ist verrückt, aber die Leute glauben eben, was sie lesen.«
Als ihr Redefluss erlahmte, nahm sie mit trotziger Miene einen ausgiebigen Schluck Kaffee, wie um ihre Worte zu bekräftigen.
Wenn das Lilys beste Erklärung dafür war, dass sie sich geistig und körperlich mitten in einer Vorstellung ausklinkte, konnte ich Julians Frustration nachvollziehen. Erst jüngst bei einer Aufführung war sie laut Zeitungsartikel, statt auf der Bühne zu erscheinen, einfach verschwunden und nach zehn langen Minuten schluchzend im Bad entdeckt worden – Zeit, die ihr Partner Robert mit einem Stegreifvortrag über Macbeths Kindheit und Eheprobleme überbrücken musste. (Robert meinte später, dass er kurz davor gestanden hatte, das Publikum um seine Wünsche zu bitten oder es zum Mitsingen aufzufordern.) Doch es hatte auch viele kleinere Auseinandersetzungen gegeben, beispielsweise weil sie gedroht hatte, nicht auf die Bühne zu gehen, oder weil sie vor entscheidenden Textstellen nervenzerreißende Pausen gemacht hatte, in denen ihre Augen der Reise ihres Bewusstseins in völlig andere Gegenden zu folgen schienen. Als mir Julian das schick abgewetzte schwarze Büchlein zeigte, in dem er sich bei Aufführungen Notizen machte, hatte ich den Eindruck, im Tagebuch eines Wahnsinnigen zu lesen. Riesige, panikartige Buchstaben fügten sich zu verzweifelten Anmerkungen zusammen: SEHR SPÄTER AUFTRITT LILY . Oder einfach: VERDAMMT , WO BLEIBT SIE ? Das Ganze so stark unterstrichen, dass die Seite durchgerissen war. Es gab nicht wenige, die die wahre Ursache von Lilys Panik schlicht darin sahen, dass sie nicht mehr so wie früher im Mittelpunkt stand, und die die gesamte Krise für die typisch elaborierte List einer Frau hielten, die es gewohnt war, mit Aufmerksamkeit und Bewunderung überschüttet zu werden. Dazu kamen die Bühnenhelfer, die mir fröhlich mitteilten, dass sie eine Schraube locker hatte – die gleiche sachliche Diagnose, die Steven Rowlands seinem vermeintlichen Rivalen Neil Ayer gestellt hatte. Ich konnte den Leuten keinen Vorwurf machen.
Dennoch schien keine dieser Erklärungen richtig zu greifen. Lily hatte etwas an sich, das sie von den vielen Fällen eines Schaut-mich-an-Syndroms unterschied. Sie drückte sich fließend aus und hatte eine feine Selbstwahrnehmung; auch wenn sie sicherlich exzentrisch war, konnte von einer ernsthaften geistigen Störung nicht die Rede sein. Was den zynischeren Vorwurf einer absichtlich inszenierten Krise betraf, so passte diese Art von Manipulation zwar vielleicht zu ihrem Charakter, doch als Versuch, Aufmerksamkeit zu erregen, war das Ganze reichlich sinnlos. Das allgemeine Interesse richtete sich inzwischen zum größten Teil auf Victoria Dobson, die dreiundzwanzigjährige Zweitbesetzung, die bei ihren Probeauftritten anscheinend einen glänzenden Eindruck hinterlassen hatte und vermutlich schon im Begriff stand, ihre eigenen Duftkerzen zu bestellen. Je mehr sich Kritiker, Zuschauer und sogar Mitspieler auf die neue Lady
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