Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
hoffen. Sie war die einzige Person an diesem Tag, die noch enttäuschter wirkte als ich – vielleicht mit Ausnahme des Leiters Mr. Tomlinson; aber da er auch vorher schon die Miene eines desillusionierten Menschen zur Schau getragen hatte, war schwer zu sagen, wie nah ihm dieser Reinfall ging im Vergleich zur Fahnenflucht seines Sohns beim Militär und der seit sechzehn Jahren andauernden Affäre seiner Frau mit einem evangelischen Pastor. Meine Gefühle ließen sich ebenfalls nicht so einfach aufdröseln. Ich wusste nicht, was ich zuerst empfinden sollte: Erleichterung, dass sich das Dilemma in Luft aufgelöst hatte; tiefe Niedergeschlagenheit über die verpasste große Chance; oder Wut auf mich selbst, weil ich in meinem Bewirtungseifer bestimmt den Hamburger nicht richtig durchgebraten und Jennifer einen Teller voll Gift serviert hatte. Ganz versessen darauf, mit den Variablen des Schicksals zu jonglieren, hatte ich einen simplen Kausalzusammenhang übersehen – schlechtes Kochen = Lebensmittelvergiftung –, der alles andere zunichtemachte. Ich fand keine Befriedigung in dem Gedanken, dass eine Art tragische Gerechtigkeit in dieser Entwicklung lag, denn ich hatte mir die Chance selbst durch Unehrlichkeit erschlichen und sie durch Dummheit zerstört. Und es bereitete mir auch keine Freude, dass ich den Epilog der Geschichte so sicher vorhersehen konnte, als hätten ihn die Götter in Stein gemeißelt:
Jennifer würde nie wieder ein Wort mit mir wechseln ohne diesen besonderen Hygieneblick der Verachtung, den Menschen jemandem zuwerfen, der ihnen eine Gastroenteritis angehängt hat;
bei nächster Gelegenheit war mit einer einmaligen Sondervorstellung von Macbeth in dem Schulsaal zu rechnen, wo Richard und ich später betrunken über Grabsteine debattieren sollten;
Richard und Jennifer würden sich als Traumbesetzung erweisen, und ein volles Haus würde sie zu vier Verneigungen herausrufen, die letzte gefolgt von einem Kuss, während sich ganz hinten jemand mit zusammengeballten Fäusten die Tränen der Eifersucht aus den Augen wischte.
Richard hatte mich für die Zeit der Behandlung von Lily Ripley zu sich nach Manhattan eingeladen, und wir verbrachten einen vergnüglichen Abend in seinen Palast am Central Park. Whiskey schlürfend lachten wir über alte Zeiten. Mr. Tomlinson war drei Tage nach seiner Pensionierung bei einem Rennbootunfall ums Leben gekommen; Jennifer O’Hara hatte den in sich gekehrten Australier geheiratet, den Richard und ich bei unserer Schulabschlussfeier kennengelernt hatten und der 1979 an einer Tankstelle in East London acht Menschen erschießen sollte. Viele Tausende von Amateur-Macbeths hatten einen kurzen Moment lang im Rampenlicht mit ihrem Gewissen gerungen, ehe sie wieder in ihren Alltag als Bankangestellte, Zahnärzte oder Psychiater zurückkehrten. Weil dieses ganze Drama um ein Drama inzwischen so fern und drollig wirkte wie Dutzende anderer Kindheitsereignisse, fanden wir es amüsant, dass ich nun gerufen worden war, um eine Lady Macbeth im Erwachsenenleben zu behandeln. Tief in unserem Hinterkopf fanden all diese Aufführungen noch immer in einem Schultheater vor stolzen und gleichgültigen Eltern auf roten Plastikstühlen statt, die in der Pause drei Pence für ein alkoholfreies Getränk bezahlten, und jeder Regisseur war ein müder Algebraspezialist mit einer untreuen Frau. Für Lily und Julian und Hunderte anderer Menschen in New York war Theater ein Beruf oder eine Berufung, aber für Richard und mich war es nur eine bezaubernde Zerstreuung.
So empfand ich eine gewisse Herablassung, als Julian bei der Schilderung von Lilys schwächer werdenden Darbietungen in die Kiste der Populärpsychologie griff und modische Phrasen hervorkramte wie »Auftrittsangst« (die Luxusbezeichnung für Lampenfieber) und »Panikattacke« (die Luxusbezeichnung für fast jedes Gefühl von Unbehagen in der Öffentlichkeit). Ich nickte abwesend, als er ihre Ausbrüche in der Garderobe, ihr verwirrtes Gestammel und ihre Anfälle von irrationaler Nervosität beschrieb. Die sicherlich vernünftigste Maßnahme, die Julian bereits ergriffen hatte, war, ihr mit dem Ausschluss vom Stück zu drohen, bis sie sich wieder gefangen hatte, und um daraufzukommen, brauchte es keinen ausgebildeten Psychologen.
Ich war mit Lily zum Sonntagsfrühstück in einem Feinkostcafé in Greenwich verabredet und rechnete damit, nur eine Sitzung mit ihr zu verbringen. Sie konnte reden, und ich konnte Fragen stellen und
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