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Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Titel: Rückwärtsleben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
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alle anderen …
    Anmerkung von PK: An dieser Stelle leierte Lily die Namen von nahezu sechzig Dorfbewohnern herunter, nannte ihre Tätigkeit und beschrieb bei vielen auch Aussehen und belanglose Einzelheiten. Diese Angaben – zusammen rund siebentausend Worte – können hier nicht wiedergegeben werden. Der Abschrift folgt eine Erörterung zur historischen Glaubwürdigkeit von Lilys Geschichte.
    LR … all diese Menschen haben sich zusammengedrängt, bis sie fast keine Luft mehr bekamen, und bei der Verbrennung habe ich gesehen, wie sie alle gejubelt haben. Sie haben mich angespuckt, weil sie dachten, dass ich eine Hexe bin und mit ihr hätte verbrennen sollen. Und ich konnte Rebecca dort oben auf dem Scheiterhaufen nicht in die Augen schauen. Ich war nicht mehr dort, als sie gestorben ist, aber man hat mir erzählt, dass sie mich verflucht hat, dass ich nicht älter werden soll als sie, auch meine Kinder nicht und die Kinder meiner Kinder. Und ich wusste, dass der Fluch wahr ist. Also konnte ich nichts machen, es musste ein schreckliches Ende mit mir nehmen. Auch ich musste sterben. Also bin ich in die Scheune gegangen, in die abgebrannte Ruine, und habe mich noch in derselben Nacht am Hals aufgehängt, um auch zu sterben.
    PK Du hast dich erhängt?
    LR Ja, mit einem Strick, ich stand auf einem Eimer.
    PK Wie lange hat es gedauert, bis du tot warst?
    LR Ich … (unverständliches Gemurmel, sinkt nach vorn, als wäre sie eingeschlafen) .
    ENDE DER ABSCHRIFT
    Zunächst musste ich mich vergewissern, dass Lily nicht unter der Hypnose gestorben war und damit den Fluch auf dramatische Weise erfüllt hatte, doch sie war aus der bewusstlosen Erzählung einfach in einen unglaublich tiefen Schlaf gesunken. Sie ins Bett zu bringen war, als würde man ein Möbelstück verrücken. Nachdem ich sie mit größter Sorgfalt wie eine Puppe auf einem Haufen Kissen drapiert hatte, machte ich Kaffee. Mein Kopf war vollgestopft und zerknittert wie ein altes Notizbuch; das harmlose Diktaphonband erschien mir auf einmal so unheimlich, dass ich zögerte, es abzuspielen. Ich drehte die Lautstärke herunter und zuckte bei den leisesten Geräuschen zusammen, als Lily mit ausdrucksloser Stimme ihre frühere Lebensgeschichte erzählte. Was ich soeben erlebt hatte, war eine erstaunliche Fantasie- und Schauspielleistung oder – wenn alles stimmte – ein bemerkenswerter Fall von Erinnerung unter Hypnose. Aber woran erinnerte sich Lily eigentlich, und wie kam es, dass sie ein Jahrhunderte zurückliegendes Ereignis bis ins kleinste Detail schildern konnte? Als ich zu Lilys Büchern über Reinkarnation und die Seele aufblickte, strahlten sie mich an wie religiöse Prediger: Es ist nie zu spät, seine Meinung zu ändern. Es musste eine Erklärung geben, die nicht voraussetzte, dass sie schon einmal gelebt hatte und gestorben war, aber im Augenblick war ich mit meinem Latein am Ende. Noch verblüffender fand ich den merkwürdigen Zufall, der ihre Geschichte über einen Hexenfluch mit dem prägenden Mythos meines Heimatorts verband.
    Unser Städchen war sicher nicht das Einzige in der Geschichte, das den bitteren letzten Wunsch eines sterbenden Sündenbocks gehört hatte, aber Lilys Erzählung hatte unheimliche Ähnlichkeit mit der Geschichte, die in Witching immer zu Halloween hervorgekramt wurde: unter anderem von Mr. Paulson, dessen grausige Neuinszenierung des Lynchmordes an der Schule schon seine späteren Eskapaden erahnen ließ. Angestrengt versuchte ich mich an Details von Paulsons beherzter Adaption zu erinnern, doch alles, was mir einfiel, war der schreckliche Geräuscheffekt von brennendem Fleisch, den Paulson von seinem Bruder, einem Produktionsassistenten beim Fernsehen, besorgt hatte, die jüngeren Kinder, die weinend aus dem Saal flüchteten, und Mr. Tomlinsons unverhohlene Neid. Ich nahm mir vor, schon morgen die Einzelheiten des Hexenprozesses von Witching nachzuschlagen, weil mir plötzlich klar wurde, dass ich trotz aller Kindheitserzählungen nichts Genaues darüber wusste. Und auch allgemein beschränkte sich mein Wissen über dieses Thema auf das, was ich aus Arthur Millers Drama Hexenjagd erfahren hatte (das im gleichen Jahr wie Macbeth an unserer Schule aufgeführt wurde, ohne dass ich dafür vorsprach). Wieder einmal hatte ich das Gefühl, dass ich über die meisten Dinge fast gar nichts wusste. Aber ungeachtet seiner Herkunft hatte ich einen einzigartigen Augenzeugenbericht gehört, und damit hatte ich Zugang zu einem Teil

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