Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
von Lily, den noch nie jemand gesehen hatte.
Als ich Lily die Aufnahme vorspielte, achtete ich auf jede Regung in ihrem Gesicht: von der Verwirrung, als sie beim Betreten des Zimmers auf Geister aus ihrer Vergangenheit stieß, über tiefe Bestürzung bis hin zu sprachlosem Entsetzen über den Kulminationspunkt. Zwei volle Minuten dauerte unser Schweigen, nachdem Lilys Alter Ego seine grausigen Erklärungen beendet und sich wieder zurückgezogen hatte. Das Klacken des abgelaufenen Bands knallte wie ein Pistolenschuss. Lily schüttelte energisch den Kopf, als wollte sie damit alles wieder zurechtrücken. Ich musste an Patsy denken in den Momenten, nachdem sie das Drama mit den Songs im Briefkasten rekonstruiert hatte. Die gleiche tiefe Verwirrung, das gleiche Gefühl, weder der frisch erschlossenen Erinnerung an die Vergangenheit noch der Wahrnehmung der Gegenwart trauen zu können und irgendwo zwischen den beiden im luftleeren Raum zu hängen. Wie in Patsys Fall hätte selbst der abgebrühteste Zyniker auch in Lilys Benehmen nichts Gestelltes erkennen können.
»Das war’s also, ich kann es nicht mehr machen.« Hastig trat Lily zum Telefon in dem Wunsch, ihren Entschluss sofort in die Tat umzusetzen, bevor die Vernunft Einspruch erheben konnte.
Doch zum Glück war ich zur Stelle. »Warte. Deswegen willst du aus dem Stück aussteigen? Was ist mit den Leuten vom Film?«
»Film …! Pete, mein Leben ist in Gefahr.«
»Immer langsam. Reden wir erst mal über das, was wir gehört haben.« Wie tags zuvor mit der Kraft nahm ich jetzt eine Anleihe auf Selbstvertrauen in der Hoffnung, dass es sich als berechtigt erwies, sobald ich den Inhalt der Aufnahme besser verstand. »Du kannst dich also nicht an die Hypnose erinnern?«
»Natürlich nicht«, antwortete Lily.
»Du erinnerst dich an nichts, was du gesagt hast?«
Ein kurzer, scharfer Blick. Es war ein Drahtseilakt, die wissenschaftliche Redlichkeit zu gewährleisten, ohne dabei den Anschein zu erwecken, dass ich Lilys persönliche Redlichkeit infrage stellte.
»Wie könnte ich das?«
»Und nachdem du jetzt weißt, was du gesagt hast, ergibt das Ganze einen Sinn? Erklärt es die Dinge?«
»Du hast es ja selbst gehört«, erklärte Lily. »Ich habe früher schon mal gelebt, das war mir irgendwie schon länger klar. In einem früheren Leben war ich ein Miststück und habe meine Freundin sterben lassen. Wahrscheinlich hätte ich mir das schon denken können. Ich habe mich schon immer vor Feuer gefürchtet, und ich hatte schon immer diese Marotte mit dem Erhängen … auch mit dem Ertrinken …«
Mit einiger Mühe unterdrückte ich eine Bemerkung darüber, dass die Furcht vor einem schmerzhaften Tod nichts Ungewöhnliches war.
»… und es liegt ein Fluch auf mir. Wie alt war Rebecca?«
»Dazu hast du keine Angaben gemacht.«
»Jedenfalls noch relativ jung.« Fast tonlos kamen die Worte über Lilys Lippen. »Ich werde sehr bald sterben. In dem Stück. Das sagt der Fluch. Wahrscheinlich sind die Träume gekommen, weil ich in einem Stück über Hexen und Töten und solche Sachen mitspiele.«
Sie sprach wie von Tatsachen, die völlig außer Zweifel standen. Ihre zittrige, aber gefasste Stimme drückte sowohl Grauen als auch Resignation aus wie die einer shakespeareschen Heldin, die voller Bitterkeit erkannt hat, dass sie Gift getrunken hat. Doch trotz der unbestrittenen Eindringlichkeit ihrer »Erinnerungen« konnte ich nicht glauben, dass diese intelligente Frau, mit der ich bei unserer ersten Begegnung so viele Gemeinsamkeiten festgestellt hatte, sich dieser klassisch fatalistischen Vorstellung von Tragödie verschrieben hatte: einem Ablauf, der durch ein unausweichliches Schicksal bestimmt, von endlos durchtriebenen Mustern weitervererbten Unglücks aufrechterhalten und von dunklen Andeutungen und Hinweisen angezeigt wurde.
»Lily, ich weiß, das sind erschreckende Träume, aber meinst du nicht, dass es trotzdem bloß Träume sein könnten? Und dass deine Äußerungen unter Hypnose bloß Dinge sein könnten, die irgendwo in deinem Kopf rumspuken? Warum siehst du darin automatisch eine … düstere Warnung?«
»Und was ist mit dem ganzen anderen Zeug, das ich gesagt habe? Woher sollte ich von der Verbrennung und dem Fluch wissen? Meinst du vielleicht, ich hab mir das ausgedacht?«
»Nein«, versicherte ich ihr. »Ich glaube einfach, dass es vielleicht nicht aus dem Gedächtnis kommt, sondern von woanders. Vielleicht hast du diesen psychischen Ballast von …
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