Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
einen anderen spirituellen Reinigungsritus oder die Umarmung eines mystischen Baums behoben wurde, würde der Kreislauf irgendwann unfehlbar erneut beginnen und Lilys Aberglauben für den Rest ihres Lebens (und wahrscheinlich gleich bis ins nächste) Nahrung geben. Damit überließ ich sie der Willkür ihres überaktiven Unbewussten.
Die Alternative war schwieriger, aber ehrenhafter. Sie sah vor, dass ich gegen Lilys Überzeugungen die Brechstange auspackte und ihr einen vernünftigen langfristigen Plan an die Hand gab, um ihre Ängste zu zerstreuen. Wir können das logisch erklären , musste ich ihr einschärfen, und es angemessen durcharbeiten. Das war meine Pflicht ihr und mir gegenüber, wenngleich:
das zu einer schrecklichen Auseinandersetzung führen konnte, in deren Verlauf mir Lily vielleicht Gleichgültigkeit und Schlimmeres vorwarf;
sie wahrscheinlich sofort die Wohnung verließ und vor meiner Abreise kein Wort mehr mit mir sprach;
sie weiter fest daran glauben würde, dass die morgige Vorstellung unter einem Unstern stand;
sie sich dann vielleicht sogar aus dem Stück zurückzog
und mein Ruf schweren Schaden erlitt.
An diesem Punkt geriet meine Entschlossenheit ins Wanken. Lebhaft konnte ich mir Richards Reaktion auf die Sensationsmeldungen der Presse ausmalen: NEUER ZUSAMMENBRUCH VON LADY MAC TREIBT SEELENKLEMPNER IN DIE FLUCHT . Ich konnte mir sogar vorstellen, dass Richard im Vollgefühl seines juristischen Triumphs Lilys Behandlung übernahm und das Verdienst an ihrer Heilung für sich beanspruchte.
Das war zu viel. Ich hatte mich so angestrengt, um in den Kopf dieser Frau vorzudringen. Sicher würde ich sie nie so vollkommen begreifen oder ihr nahestehen, wie ich es erhofft hatte, aber ich konnte nicht zulassen, dass sie zu meinem ersten öffentlichen Fehlschlag wurde. Und so hatte ich mich, als Lily wiederkam, für das Placebo entschieden. Statt Flagge zu zeigen, hängte ich die Fahne in den Wind.
»Also gut«, sagte ich. »Legen wir los mit … der Reinigung.«
Die Lichter wurden gedämpft, die Kerzen angezündet, die mystischen Gegenstände nach Lilys Vorgaben in Mustern verteilt. Sie in den erforderlichen fügsamen Zustand zu bringen, erwies sich heute als schwierig, weil sie außer Atem und erregt war. Ich selbst war fahrig und zerstreut. Irgendwann jedoch wurden Lilys Augenlider schwer, und aus ihrem Gesicht wich jeder Ausdruck. Nachdem ich sie wie ein genialer Scharlatan aus einem Zeitreisefilm in das Jahrhundert ihrer Wahl zurückversetzt hatte, wusste ich nicht so recht, wie ich weiter vorgehen sollte; doch Lily war mit eigenen Plänen in diese Hypnose (und wohl auch unser gesamtes Verhältnis) eingetreten, und bald wurde deutlich, dass ich eigentlich nur abwarten musste.
Nicht lange, und sie fing an, unverständliche Worte zu murmeln, einige davon vielleicht Namen. Doch das hatte ich schon einmal erlebt, und nach Richards zynischen Bemerkungen war der mystische Lack ein wenig abgeblättert. Trotzdem war es bewegend, wie Lily die Tränen in die Augenwinkel traten und ihr über die Wangen liefen. Weinen stand ihr gut, und ich empfand den irritierenden Wunsch, ihr einen Kuss auf die feuchten Lippen zu drücken, als könnte ein einziger Moment körperlicher Nähe die Tatsache ausgleichen, dass wir im Herzen Welten voneinander entfernt waren.
Ihr Blick durchdrang mich, ohne mich zu sehen. »Es tut mir leid, es tut mir leid.« Dann lauter, eindringlicher: »Vergib mir.«
Ich fragte mich, ob ich nun Rebecca spielen und die Entschuldigung annehmen sollte – »Klar, kein Problem« –, doch der plötzliche Frieden auf Lilys Gesicht gab mir die Antwort. Ich erkannte, dass sie irgendwo in dem Gewirr ihres Unbewussten Vergebung gefunden hatte; ich selbst war nicht so sicher, ob ich mir diesen Hokuspokus jemals vergeben konnte.
Eine halbe Stunde später war sie noch immer auf ihrem Platz, die kleinen Kerzen waren zu Stümpfen heruntergebrannt. Diesmal hatte die Hypnose kein offizielles Ende genommen, kein Schlaf hatte sich plötzlich herangeschlichen. Erschöpft, aber friedlich saß Lily da, die Arme im Schoß gefaltet.
»Ich fühle mich wirklich anders«, meinte sie nach einer Weile. Und dann: »Danke für alles.«
Kurz darauf kündigte alkoholbeschwingtes Lachen die Rückkehr von Richard und Donna an. Als der Schlüssel im Schloss klirrte, fühlte ich mich unwillkürlich preisgegeben. Wie im Rücklauf ihres Weggangs kamen die beiden herein, strahlend und lärmend nach ihrem gemeinsamen
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