Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
sehen Psychiater in Fernsehdramen, jeder ist ein Experte. Stockholm-Syndrom gefällig? Okay, ich erwähne, dass mir die Cops wie Kumpel vorgekommen sind. Erinnerung an die ferne Vergangenheit unter Hypnose? Okay, ich eigne mir ein außergewöhnlich detailreiches Wissen an und gebe es so zum Besten.« Sein glasiger Blick traf die Sache aufreizend genau. »Und danach erinnere ich mich an nichts mehr. Weißt du«, setzte Richard hinzu, »möglicherweise habe ich erwähnt, dass wir uns aus Witching kennen, als ich dich für die Behandlung empfohlen habe.«
»Was willst du damit sagen? Dass sie die ganze Geschichte erfunden haben könnte? Warum zum Teufel sollte sie so was tun?«
In Richards Augen funkelte es schelmisch. Er spürte meine Empörung. »Das ist natürlich alles reine Spekulation.« Er hob die Hände wie ein Sportler, dem Foulspiel vorgeworfen wird. »Und wenn jemand Echt von Falsch unterscheiden kann, dann bist du das.« Er hatte es schon immer verstanden, einen Ton exakt an der Grenze zwischen Aufrichtigkeit und Spott anzuschlagen. Wie Politiker machen viele Psychiater aus der unverbindlichen Haltung eine Kunst und weben aus glatten, subtil sinnlosen Sätzen glanzvolle Teppiche, mit denen sie alle Einwände der Zuhörer ersticken. Richards besonderes Geschick lag weniger darin, das Fehlen einer Meinung zu kaschieren, als zu signalisieren, dass er zu allen Meinungen gleichzeitig fähig war. Das war zwar ein entscheidender Faktor für seine Beliebtheit, doch manche Menschen verstimmte er damit auch, unter anderem Donna, die ihm diesen und sechs weitere Charakterfehler am letzten Tag der Beziehung unversöhnlich vorhielt.
Mich brachte er damit ebenfalls auf die Palme. »Ach, komm. Warum sollte sie sich das alles ausdenken?«
Eine Sekunde lang schwieg er.
»Dir fällt kein einziger Grund ein, gib’s zu.«
» Vielleicht versucht sie, dich zu verführen.« Richard ignorierte das verächtliche Prusten, zu dem ich mich verpflichtet fühlte. »Oder sie liebt Aufmerksamkeit. Oder es nützt auf lange Sicht ihrer Karriere. Hast du gewusst, dass die Zuschauerzahlen um fünfzig Prozent gestiegen sind, seit sie angefangen hat durchzudrehen? Die haben jeden Abend eine ausverkaufte Vorstellung. Mehr Publikum und größeres Presseecho heißt, dass auch das Interesse bei den Filmagenturen steigt. Sie will unbedingt zurück zum Film – wie alle Schauspieler.«
Ich setzte gerade dazu an, seine Punkte nacheinander zu widerlegen, da trat Donna mit einer Flasche Wein ein. Sie hatte das Haar mit einer Schleife zurückgebunden und trug ein tief ausgeschnittenes bordeauxrotes Kleid. Der Duft eines teuren, sommerlichen Parfüms erfüllte das Zimmer, als sie mit verspielter Ungeduld an Richards Ärmel zupfte. Sie waren ein bezauberndes Paar.
Da ich daran denken musste, dass ich als Gast ein Stück weit ihren Alltag durcheinanderbrachte, schloss ich Frieden mit Richard und wünschte ihnen einen schönen Abend. Sie zerrte ihn zum Taxi, während er in gespieltem Widerstreben zappelte, und als Letztes hörte ich, wie sie über italienische Lieblingsfischgerichte redeten. Ich schmierte mir ein schlichtes Erdnussbutterbrot, der Regen prasselte an die Fensterscheiben, und ich schwelgte etwas pathetisch in dem Vergleich mit ihnen.
Natürlich war ich in Gedanken bald bei der gerade laufenden Vorstellung im Charterhouse. Sie verkündete wohl gerade Duncans Ermordung, während ich mein frugales Mahl beendete, und begann mit dem besessenen Händewaschen, als ich aus der Dusche trat. Doch dann endete das Nachrechnen, denn das Telefon klingelte.
Es war Lily. »Die Vorstellung fällt aus wegen des Gewitters.«
»Sie wurde abgesagt?«
Sie war schon einen Schritt weiter. »Ich muss … Kann ich zu dir kommen?«
»Na ja, ich bin hier ja selbst bloß zu Besuch. Deswegen …«
»Wir brauchen nur einen ruhigen Ort für unsere Sache.«
»Unsere Sache?«
»Ich hab mir überlegt, was wir machen müssen wegen …« Ein Knistern unterbrach Lily, und ein Donnergrollen brachte die Fenster zum Beben, wie um ihre Geschichte zu untermauern. Sie ließ sich nicht umstimmen, und so stellte ich mich schließlich mit der bereits gewohnten Mischung aus Faszination und Beklommenheit auf ihren Besuch ein.
Die Straßen unten waren dunkel; Autofahrer hupten gereizt, als wollten sie sich gegenseitig für das Wetter verantwortlich machen. Ein Blitz tauchte die Szenerie in grelles Licht, und ich erinnerte mich, wie ich zu Hause auf dem Dach glücklich und
Weitere Kostenlose Bücher