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Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Titel: Rückwärtsleben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
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gesehen, wie er die Unterlagen wieder herausnahm, daher hegte ich den Verdacht, dass es sich um Requisiten handelte, die er ausschließlich zu diesem Zweck benutzte. »Bloß schade, dass nicht du ihn behandelt hast. Du hättest bestimmt mehr Verständnis für ihn gehabt.«
    »Ich behaupte nicht, dass ich mehr Verständnis für ihn gehabt hätte …«
    »Aber ich behaupte es«, giftete Simon. »Er hatte nämlich nur Scheiße im Hirn.«
    In scharfem Ton erklärte ich Simon, dass ich bei Lily auf den alten Kniff zurückgegriffen hatte, den Patienten glauben zu lassen, was ihm am meisten nützte; außerdem wies ich ihn darauf hin – und das war ein wesentlich strittigerer Punkt, gegen den ich unter anderen Umständen wohl selbst Stellung bezogen hätte –, dass wir ein Geschäft wie alle anderen betrieben und uns mit unserem Angebot nach den Wünschen der Kunden richten mussten.
    Simon regte an, dass ich angesichts meiner Liebe zu Manhattan mit meinem geschäftlichen Know-how vielleicht am besten an der Wall Street aufgehoben war. Seine Stimme triefte vor Bitterkeit, doch aus moralischer Sicht war er im Recht. Er arbeitete schon doppelt so lange wie ich an dieser Einrichtung, ohne dabei Vorstöße ins Rampenlicht zu wagen, weil er keinen Aloisi hatte, der ihm Brosamen zukommen ließ.
    Also verließ ich das Unternehmen, in dem ich acht Jahre lang gearbeitet hatte, und eröffnete meine eigene Praxis in Räumlichkeiten, die der Chicagoer Zweig der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage verlassen hatte, nachdem einer ihrer Priester wegen Geldwäsche im Gefängnis gelandet war.
    Einige unauffällige Presseausschnitte an Wänden, die bei meiner Ankunft noch die Spuren quasireligiöser Ikonografie trugen, erinnerten an meine öffentlichkeitswirksameren Erfolge; auf dem Schreibtisch stand neben einem Bild meiner Eltern ein kleines, für eine Zeitung geschossenes Foto, auf dem Patsy und ich mit einem Mikrofon posierten. Inzwischen hatte ich bis auf den gerafften Nachrichtenüberblick von Weihnachtskarten kaum mehr Kontakt zu Patsy, aber die Aufnahme verlieh meinem Unternehmen einen gewissen Prominentenglanz: Wie so oft bei Bürofotos diente sie nicht in erster Linie dazu, angenehme Erinnerungen zu wecken, sondern potenzielle Klienten zu beeindrucken, in diesem Fall mit der Vorstellung, dass sie meine Praxis vielleicht mit einem Kopf voller brillanter Songs verlassen würden. Die Erwähnung dieser und anderer Instrumentalisierungen meines neuen Ruhms bereitete mir keine Freude; schon damals beunruhigte mich der veränderte Kurs meiner Karriere, der durch die Begegnung mit Lily wie eine Flipperkugel in die höheren Bereiche der Maschine abgelenkt worden war: mehr Punkte, mehr Preise, aber weniger Kontrolle.
    Obwohl mir die frische Luft der Selbstständigkeit die Freiheit verschaffte, auch ungewöhnliche Aufträge zu übernehmen, machte ich einen Bogen um Simulanten, Zeitverschwender (auch wenn sie noch so reich waren) und alles, was nach »Jenseitigem« roch. Mit zunehmender Etablierung gönnte ich mir vernünftige Urlaubszeiten und ein angemessenes Einkommen und passierte den Grenzübergang zum mittleren Alter in bester Verfassung, zumindest nach außen hin. Doch noch immer war ich mir eines Lochs bewusst, durch das unendlich langsam mein Herzblut entwich: eine Wunde, die ich mit hastigen romantischen Verbindungen hatte heilen wollen, deren Gestalt jedoch immer schartiger und endgültiger wurde und sich längst nicht mehr mit einem Verband schließen ließ, sondern nach einem Pfropf rief. Allerdings hatte ich keine Ahnung, wie sich dieser Pfropf bilden sollte, genau wie so viele meiner dreißig- bis sechzigjährigen Klienten – fast alles beruflich erfolgreiche Akademiker –, die von diesem Gefühl berichteten: zu vage, um eine Sehnsucht oder ein Verlangen zu sein, aber auch zu hartnäckig, um dauerhaft ignoriert zu werden. Vielleicht war es nur das Gewicht der mittleren Jahre, doch wenn es schon schwer war, diese Diagnose meinen Patieten zu stellen, fiel es mir noch schwerer, sie für mich selbst zu akzeptieren.
    Dads Lunge, die bereits seit Jahren nur unter Protest arbeitete, wurde mit jedem Winter, der an ihr zehrte, widerspenstiger. Nach den Weihnachtsfesten 86 und 87 schaufelte ich so viel Platz wie nur möglich in meinem Terminkalender frei, um noch in England bleiben und meiner Mutter in gleichem Maße behilflich und hinderlich zu sein. Dad verbat sich das meiste an verfügbarer Zuwendung mit der entschlossen

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