Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
vernünftigen Was-soll-die-ganze-Aufregung-Geschäftigkeit, die sowohl auf Heilung als auch auf Resignation deuten kann. Über weite Strecken war seine Darbietung überzeugend; er konnte immer noch angeln, spazieren gehen und eine energische Unterhaltung über den Zustand der Polizei bestreiten; doch an schlechten Tagen wurde jeder Atemzug zu einem qualvoll vom Grund des Flusses heraufgeholten Fang, und seine Lunge war wie ein löchriger Eimer, der nichts halten konnte. Bei einem Restaurantbesuch schwieg er fast den ganzen Abend, um uns zu zeigen, wie gesund er war, doch am Ende löste diese Anstrengung den aufgestauten Husten aus, den er unterdrückt hatte, ein bellendes Konzert, das so lange und wüst ausfiel, dass wir uns in eine Ecke setzen musste, um die anderen Gäste nicht übermäßig zu beunruhigen. Die Ärzte ließen mit sachkundigem Takt verlauten, dass alle noch möglichen Maßnahmen das Unvermeidliche nur hinauszögern würden, denn seine eigentliche Krankheit war das Alter: die einzige Krankheit, deren Heilung man sich nicht wünscht, wie es in einem seiner Lieblingsfilme hieß.
Man sagte uns, dass er noch sechs Monate zu leben hatte; daraus wurde im Zickzackkurs zuerst ein Jahr, dann drei Monate; und schließlich teilte man uns mit, dass keine Vorausssage mehr möglich war. Meine Mutter nahm die wechselnden Lebenserwartungen gelassen auf und hakte ihre schlanken Finger in die Dads, wenn der Arzt mit ernster Miene von seinen schlechten Schaubildern aufblickte. Diese Gelassenheit hatte sie früher nicht besessen. In meiner Kindheit war sie rastlos zwischen Zimmern und Unterhaltungen herumgewandert; erst im späteren Leben hatte sie sich anscheinend diese ruhige Entschlossenheit zugelegt, als hätte sie sich mit dem ständigen Aufruhr abgefunden. Da Dad sich Sorgen machte, dass ihn die langen nächtlichen Hustenanfälle (bei denen Mum ihm immer wieder geduldig Wasser nachschenkte und ihn durch Gespräche ablenkte) um die empfohlenen acht Stunden Schlaf brachten, gewöhnte sie sich an, zu seiner Beruhigung die Uhren zu verstellen. Am Morgen des 21. Dezember fiel sie auf ihre eigene List herein und verließ in höchster Eile das Haus, weil sie einen Termin beim Friseur hatte. Sie überquerte die Straße, um für später Kartoffeln einzukaufen, und brach im Lebensmittelladen zusammen. Ein junger Polizist wurde zum Haus meiner Eltern geschickt. Dad hielt ihn für einen Pfleger und begrüßte ihn mit einer fröhlichen Bemerkung; dann teilte ihm der Mann mit, dass seine Frau tot war.
1988 war unser erstes Weihnachten als Familie mit nur einem Elternteil. Während sich der Schnee dick auf die Dächer glücklicher Fernsehfamilien legte und im realen Leben träge durch unseren Garten trieb, stieg ich an einem Nachmittag, der noch stiller war als sonst, langsam die Treppe hinauf (die dritte Stufe von oben ächzte diskret), auf der mir vor über zwanzig Jahren Jennifer O’Hara entgegengekommen war, in das Zimmer, in dem noch immer verstreut in Regalen und unterm Bett die verkümmerten Zeugnisse meiner Kindheit lagen. Ich griff in eine Schublade mit unvollendeten Briefen an Menschen, die ich nie wiedersehen würde, mit Notizen zu Schulaufgaben für Lehrer, die inzwischen tot waren, und fischte den einzigen noch bedeutenden Gegenstand heraus: ein Buch in einem schwarzen Ledereinband mit ausgefransten, vergilbten Seiten. Seit achtundzwanzig Jahren nahm ich mir an Weihnachten die Zeit, die beschwingte Stimmung oder die betrunkene Apathie der Familienzusammenkunft in unserem Haus zu unterbrechen und einen Überblick der Tagesereignisse in dieses Buch einzutragen. Dies waren meine ältesten Fallnotizen, die am weitesten zurückreichende Anordnung von Aufstellungen, die sich als eine fast drei Jahrzehnte umfassende Chronik banaler Weihnachtsdetails zu einer Art Stichpunktresümee meines bisherigen Lebens entfaltete. Viele ihrer Protagonisten waren bereits von der Bühne abgetreten, die Zeit hatte jede Bedeutung aus den Ereignissen herausgeschliffen, und das Tagebuch selbst stand kurz vor dem Ende. Dennoch gab ich mich schamlos dem retrospektiven Vergnügen hin, das eine Art Trostpreis darstellt für all jene, die den ursprünglichen Weihnachtsfreuden entwachsen sind.
Während draußen ein heftiger Wind blies, versenkte ich mich noch einmal in die Aufregungen und Spannungen der Weihnachtsfeiern unserer Familie. Mit dem Fortgang des Tagebuchs entwickelten sich die spinnenhaften Buchstaben des Kindes über die
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