Ruegen Ranen Rachedurst
gezackte Narbe mit dem Zeigefinger der anderen Hand nach. Immer wieder. Das hatte er früher auch oft getan, um das Schreckliche zu begreifen, das ihm geschehen war. Narben bleiben! Immer! So wie manche Erinnerungen, die auch wie Narben sein konnten und genauso schmerzten. Zwar nicht bei jedem Wetterwechsel wie die Narbe an seiner Hand, aber zu allen möglichen anderen Gelegenheiten.
Er atmete jetzt tief und gleichmäßig. In der Therapie hatte er gelernt, wie man das machte. Das war allerdings auch das Einzige, was er davon hatte mitnehmen können. Ansonsten … Aber das lag vielleicht an ihm. An seiner Schweigsamkeit. Damals schon …
Er ging zum Tisch, vorbei an der Spüle, in die das Wasser lief. Er ließ es einfach laufen, bereits seit einer halben Stunde. Es lief über das Beil und würde sicher dazu beitragen, dass sich die Roststellen noch tiefer in das Metall hineinfraßen.
Aber Blut war so schwer abzuwaschen.
Selbst wenn gar nichts mehr zu sehen war, hatte man immer das Gefühl, dass man noch weiterwaschen musste.
Blut …
Rot …
Nein, er wollte nicht mehr daran denken. Denn das erinnerte ihn immer an den Augenblick, als er hilflos am Boden gelegen hatte, wie begraben, eingeklemmt, in unerträglicher Hitze und mit so viel Blut um ihn herum. Eine Stimme hatte gerufen: „Kommt, schnell weg!“
Er ging zum Tisch. Dort lagen zwei flache Kästen mit Käferpräparaten. Käfer, so bunt und exotisch wie die Natur eben war. Immer dieselbe Grundform, sechs Beine, Beißwerkzeuge, ein Kopf, ein Körper und ein Rückenpanzer aus Chitin, manchmal auch Flügel. Aber die Varianten innerhalb dieses Grundmusters waren endlos. Selbstähnlichkeit in Perfektion – wie sonst nur bei Schneeflocken unter dem Mikroskop. Bis heute wurden immer noch jedes Jahr neue Käferarten entdeckt und fanden ihren Platz in der biologischen Systematik mit einem erhaben klingenden, lateinischen Namen.
Er klappte die Tablettendose auf, in der er seine seltensten und markantesten Exemplare aufbewahrte.
Zwei Käfer unter so vielen …
Ein Zeichen, das sollte es sein.
Ich werde nicht mehr lange Zeit haben, um alles zu einem Abschluss zu bringen, ging es ihm durch den Kopf. Dieser Benecke war ihm auf den Fersen. Im Fernsehen löste er jedes Rätsel, sah die kleinsten Dinge, konnte aus einer Made, die aus einer Leiche herauskroch, erkennen, wer als Mörder infrage kam …
„ Es wird schneller geschehen müssen, als ich ursprünglich vorhatte!“, murmelte er.
***
Mark Benecke und Georg Schmitz fuhren zurück zum Hafenhotel Viktoria. Lydia traf dort etwas später ein. Sie hatte eine schöne Wanderung durch den Goor-Wald gemacht und war dabei den „Pfad der Muße und Erkenntnis“ abgegangen.
Sie machte den Vorschlag, doch am Abend den Gasthof „Zur Linde“ in Middelhagen zu besuchen.
„ Ist das weit von hier?“, fragte Benecke.
„ Hier, von Lauterbach aus, wäre das eine wunderschöne Fahrradstrecke nach Middelhagen, das im Zentrum der Halbinsel Mönchgut liegt“, lächelte seine Ehefrau, „aber dazu hast du ja leider keine Zeit. Das Restaurant „Zur Linde“ ist der älteste Landgasthof auf Rügen und soll ein uriges Ambiente besitzen. Außerdem kann man dort vorzüglich essen und selbst gebrautes Bier und Kaffee aus eigener Röstung trinken“, zählte sie weiter auf und warf George einen vielsagenden Blick zu.
Der nickte schon begeistert und fragte, woher denn der Name Mönchgut käme. Lydia schaute ihn etwas prüfend an, so als wolle sie testen, ob er auch wirklich Interesse an einem geschichtlichen Vortrag habe. Dann holte sie tief Luft und erzählte: „Die Ranen erlebten 1168 auf Arkona die Erstürmung ihrer berühmten Tempelburg, die dem Gott Svantevit geweiht war. Ihr Fürstentum verlor dabei seine politische und wirtschaftliche Vorherrschaft in der mittleren Ostsee an das dänische Königreich. Der slawische Fürst Jaromar musste den christlichen Glauben annehmen und überließ die dünnbesiedelte südöstliche Halbinsel dem Orden der Zisterziensermönche. Diese verstanden sich auf die Urbarmachung unwirtlicher Gegenden und errichteten unter Zuhilfenahme von Bauern, Seefahrern und Fischern „Das Gut der Mönche“, daher der Name Mönchgut. Das Gasthaus „Zur Linde“ steht an der Stelle des früheren Klosterhofs.“
„ Woher weißt du das alles? Mobil gegoogelt?“, neckte Benecke seine Frau.
„ Nein, nein, da war eine Frau, die mit mir zusammen die Wanderung im Nationalpark Jasmund gemacht hat. Wir
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