Rügensommer
Dieser Leiter, Thomas, sei ein langjähriger Freund von ihm. Alle paar Wochen fuhr Hannes zu ihm, um der Geschäftigkeit und dem Trubel auf Rügen zu entfliehen, oder Thomas besuchte seinerseitsHannes, um so etwas wie Sozialstrukturen oder auch Nachtleben nicht zu verlernen.
Thomas erwartete sie bereits an dem kleinen Anleger. Er war groß und schlank, hatte freundliche braune Augen und kastanienbraunes Haar, das in der Sonne rötlich schimmerte und sich wirr über den Kopf und das Kinn kringelte.
»Willkommen auf Vilm! Schön, dich kennenzulernen.« Er schüttelte Deike kurz die Hand. Hannes klopfte er auf die Schulter. »Na, mein Alter, alles im Lot?«
»Alles in Ordnung, ja.«
Sie streiften auf ausgewählten Wegen durch den Urwald, der hier, wie die Natur überhaupt, völlig sich selbst überlassen war. Deike war fasziniert von den knorrigen alten Bäumen, die aussahen wie versteinerte Märchenfiguren, die ihre dünnen Arme nach den Besuchern ausstreckten. Thomas erzählte, dass es Füchse und natürlich jede Menge Vögel unterschiedlichster Arten gab. Erst ungefähr dreitausend Jahre sei es her, dass Vilm sich von Rügen gelöst habe, erklärte er. Sie liefen ein Stück am Strand entlang und mussten hier und da über umgestürzte Baumstämme klettern. Dann streiften sie wieder durch hohes Gras, das noch nie einen Rasenmäher gesehen hatte. Nach beinahe vier Stunden – Deike fragte sich, wie man so lange über ein so kleines Stückchen Erde laufen konnte – erreichten sie ein Haus mit Schilfdach, das auf einer Kuppe stand. Es war sonnengelb gestrichen, hatte nach Süden auf gesamter Breite bodentiefe Fenster und eine umlaufende Veranda.
»Hereinspaziert!« Thomas öffnete die Tür und bedeutete ihnen mit einer ausladenden Geste einzutreten.
»Es ist unglaublich schön hier.« Deike stand am Fenster und sah über die Wiesen, auf denen gelbe und dunkelrote Blumen blühten.
Hannes umfasste sie von hinten und legte sein Kinn auf ihre Schulter. »Ja, Vilm ist unvergleichlich. Thomas hat Glück mit dieser Stelle und diesem Haus.«
Sie nickte. »Obwohl … Auf Dauer wäre es mir hier zu einsam, glaube ich. Und wir haben es auf Rügen mit unserem Häuschen doch auch gut getroffen.«
Hannes hob den Kopf und sah sie von der Seite an. »Unser Häuschen … Das klingt gut.«
Thomas brachte Brot und eine Platte mit verschiedenen Käsesorten. Dann holte er eine große Schüssel Salat aus der Küche, den er offenbar auf die Schnelle gezaubert hatte.
»Habt ihr Hunger?«
»Das ist eine Frage! Nach der Wanderung und so viel frischer Luft – wie könnte man da keinen Hunger haben?« An Deike gewandt, ergänzte er: »Thomas ist Vegetarier, aber man wird bei ihm trotzdem immer satt.«
Die beiden Männer unterhielten sich über ihre Arbeit und erzählten Deike von einigen Naturschutzprojekten, die sie schon gemeinsam auf die Beine gestellt hatten. Sie hörte ihnen gespannt zu und schämte sich, dass sie sich im Grunde für nichts Wichtiges engagierte. Selbst ihre Arbeit war so unnütz wie eine heruntergebrannte Kerze. Sie straffte den Rücken und atmete tief durch. Mit Hannes an ihrer Seite würde alles anders werden.
Der wollte gerade etwas sagen und sich gleichzeitig eine Gabel in den Mund schieben. Das konnte ja nicht gut gehen. Irgendetwas purzelte auf sein Hemd. Mit hängenden Schultern und großen jungenhaften Augen murmelte er: »Da war so ein rundes Kullerding.«
»Man nennt diese Kullerdinger Maiskörner«, stellte Thomas gelassen fest.
Deike ging das Herz auf. In dem Moment wurde ihr klar, dass sie ihn nicht nur mochte, süß fand, begehrte –– nein, sie wusste, dass sie sich in ihn verliebt hatte. Mit allen Konsequenzen.
13.
Sie verbrachten das ganze Wochenende zusammen. Deike schwebte auf Wolken. Es war ein Leichtes, die Zweifel, die sich hin und wieder wie kleine Zecken an ihr festsaugen wollten, abzuschütteln. Jeden Morgen wurden sie gemeinsam wach und brauchten meist eine ganze Weile, bis sie endlich aus dem Bett kamen. Selbst am Montag schliefen sie noch miteinander, bevor Hannes in Richtung Nationalpark radelte und Deike in die Redaktion fuhr. Am Nachmittag musste sie zur Eröffnung eines Yoga-Studios in einem kleinen Dorf im Nirgendwo zwischen Bergen und Ralswiek. Wer sollte sich bloß in diese Einöde verirren, um sich nach den Anweisungen eines langbärtigen Yusuf-alias-Cat-Stevens für Arme den Leib zu verrenken? Kein Wunder, dass die von vornherein scharf auf gute Presse waren. Deike war
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