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Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition)

Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition)

Titel: Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meredith Duran
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aus dem Zug in wimmelndes Chaos. Zu dieser Stunde waren in der Bahnhofshalle alle Gleise von leuchtend gelben Personenwagen belegt. Eine Flut von Bankangestellten in schlichten schwarzen Anzügen strömte im Gleichschritt zum Bahnhofsgebäude. Ausnahmslos alle hatten ihr Kinn in warmen Schals versteckt und trugen die Morgenzeitung unter den Arm geklemmt. Sie heftete sich einem von ihnen an die Fersen und vertraute darauf, dass er ihr rasch einen Weg durch das Gewirr von Händlern (sie boten Hot Cross Buns, Kartoffeln und glühend heißen Tee feil), Zeitungsjungen und Müttern bahnte, die weinende Kinder und Picknickkörbe mit sich trugen.
    Als sie das Ende des Zuges erreichte, erblickte sie in der Türöffnung eines Zweite-Klasse-Abteils einen Mann, der sie ansah und grüßend gegen seine Melone tippte. So ein Halunke, bei einer Fremden Annäherungsversuche zu machen! Als sie im Vorbeigehen einen Blick zurückwarf, entdeckte sie Sanburne, der nur ein paar Schritte hinter ihr herlief. Der Mann mit der Melone sprang auf den Bahnsteig und folgte ihm, und als ihr Blick ihn noch einmal streifte, erkannte sie sein Gesicht. Wo hatte sie ihn noch einmal gesehen? Damals hatte sie an Sanburne gedacht …
    Die Bibliothek. Er war einer der zwei Turteltäubchen, die an dem Tag, als sie die Nachricht von Polly Marshall erhielt, neben ihr gesessen hatten. Vielleicht hatte er sie wiedererkannt. Trotzdem war es unverschämt von ihm, sie zu grüßen.
    Als sie unter der großen Uhr entlangging, griff sie in ihr Ridikül, um darin nach Geld für eine Droschke zu kramen. Sie wollte auf direktem Wege zu Carnelly fahren. Das war ihre Pflicht, und sie traute sich nicht, es aufzuschieben, da sie eben einen kurzen Augenblick in Versuchung geraten war, Sanburnes Vorschlag, die Sache Papa zu überlassen, anzunehmen. Mordanschlag , dachte sie grimmig. Wenn es wirklich so ernst gewesen wäre, hätte er es schon gestern Abend erwähnt. Zweifellos war er voll wie eine Haubitze gewesen und hatte jemanden angerempelt, der daran Anstoß genommen hatte. Im schlimmsten Falle stammten diese Briefe von Overtons Kontaktmann. Konnte man sich eine bessere Methode vorstellen, Papa zu ruinieren, als ihm von einer bedeutenden Persönlichkeit vorwerfen zu lassen, Meuchelmörder zu entsenden?
    Eine Hand streifte sie am Arm. Mit einer scharfen Bemerkung auf den Lippen warf sie einen Blick zurück. Doch alles, was sie sah, waren nur Dutzende vorbeihastender Menschen – und der Mann mit der Melone. Er war jetzt unmittelbar hinter ihr. Ein Zittern schoss bis in ihre Kniekehlen. Wie albern! Trotzdem beschleunigte sie ihre Schritte. Wo war Sanburne bloß abgeblieben? Das plötzliche, schrille Quietschen eines anhaltenden Zuges ließ sie zusammenzucken. Sie lachte gezwungen. Diese Panik war irrational. Trotzdem blickte sie wieder zurück. Der Melonenmann gewann an Boden. Nur noch wenige Schritte, und er wäre in der Lage, sie zu berühren. Doch er verfolgte sie sicher nicht. Er war nur auf dem Weg zum südlichen Ausgang.
    Ihr Körper akzeptierte diese Logik nicht. Ihr Herz hämmerte warnend. Beunruhigt sah sie sich um und suchte die Menschenmenge nach dem hellen Schopf des Viscount ab.
    Ein Fremder trat ihr in den Weg. »Miss Boyce«, sagte er. Er war groß und dünn, mit einer knöchernen Nase und tiefliegenden Augen, die sie selbstsicher fixierten. »Wir müssen uns unterhalten.« Er warf einen raschen Blick hinter sie, und da wusste sie, wusste sie instinktiv, dass er den Mann mit der Melone ansah. Sie waren Komplizen.
    Er griff in seine Jacke. Das hatte nichts Gutes zu bedeuten. Sie sah ihm ins Gesicht. Auch in Albträumen geschahen Dinge manchmal auf diese Art – sehr langsam, sodass ihre Gedanken schneller waren als ihre Reaktionen. »Lassen Sie mich in Ruhe«, rief sie, warf ihm in hohem Bogen ihren Regenschirm ins Gesicht und fing an zu rennen.
    Eine Hand schloss sich um ihren Ellenbogen. Ihre Stimme dröhnte aus ihr hervor und hätte mit ihrer Lautstärke jeder Suffragette Ehre gemacht. » James! « Doch ihr Schrei drang nicht durch den Lärm. Jetzt wurde sie herumgerissen. Der Melonenmann hatte pockennarbige Wangen und einen winzigen Mund. Er hob die Hand, nur dass es nicht seine Faust war, die er ihr auf den Mund schlug. Das Tuch war mit einem ekelhaft süßen Parfüm getränkt. Es stieg ihr in die Nase und breitete sich bis in ihre Lunge aus.
    Sie schlug ihre Fingernägel in seine Fingerknöchel. Nicht atmen; nicht. Ein Husten bemächtigte sich ihrer, sie

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