Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition)
auf.
Das Zimmer, in dem sie sich befand, war weitläufig und hübsch möbliert. Die Vorhänge mit kirschroten und weißen Streifen standen offen und ließen die späte Nachmittagssonne herein, und die Wände waren mit zahlreichen Gemälden von ländlichen Szenen geschmückt. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Als sie die Hand auf ihre Brust legte, spürte sie, wie ihr Herz raste. Ihr wollenes Mieder fühlte sich feucht an. Als sie den Kopf senkte, nahm sie den Duft von Fliederwasser und den leisesten Hauch von Erbrochenem wahr. Hatte sie sich auf sich selbst übergeben? Tat ihr deshalb der Magen …?
Hör auf. Denk nicht darüber nach.
Sie stand vorsichtig auf. Ihr Hut lag auf einem Stuhl ganz in der Nähe und ihre Stiefel standen auf dem Teppich bereit. Während sie sie zuschnürte, sah sie sich eingehender im Raum um. Mitglieder einer Schlägerbande würden ihre Gefangenen ganz bestimmt nicht mit Seidentapete und Bettwäsche aus französischem Linnen ausstatten. Aber etwas an dem Raum machte sie trotzdem beklommen. Der französische Toilettentisch aus Emaille war zwar sehr elegant, aber völlig leer. Der Schreibtisch aus Walnussholz wies weder Papier noch Federhalter auf. Auf dem Kaminsims standen Kerzen, die noch nie angezündet worden waren, und die glänzend blauen Kacheln im Kamin selbst waren von Asche unberührt. Einen nichtssagenderen und sterileren Raum hätte man sich nicht vorstellen können. Er hätte sich überall in Mayfair befinden können, doch dass es Sanburnes war, bezweifelte sie stark.
Ihre Zunge lag staubtrocken in ihrem Mund, sodass sich ihr Durst als stärker erwies als ihre Angst. Auf dem Toilettentisch stand ein silberner Krug. Das kalte Wasser darin schmeckte köstlicher als Ambrosia, und sie trank es gierig, Schluck für Schluck, bis auf den letzten Tropfen aus, während das Klavier in der Ferne weiter donnerte. Als ihr Durst gestillt war, stellte sie den Krug wieder ab und nahm die Tür in Augenschein. Sie stand einen Spalt offen. Das Mitglied einer Schlägerbande hätte sie eingesperrt. Sie nahm ihren Hut an sich und folgte der Musik nach draußen, durch einen Vorraum in einen dunklen Gang, in dem es irritierenderweise roch wie in Alexandria. Weihrauch, wurde ihr im Nachhinein klar: Im arabischen Viertel hatten sie ihn ständig verbrannt.
Nach nur wenigen Schritten den Gang entlang fand sie das Klavier in einem Salon mit hoher Decke, dessen Vorhänge offen standen und Licht hereinließen. Die furiose Musik wurde von einem Kind erzeugt – einem kleinen Mädchen im weißen Spitzenkleid mit einer blauen Schärpe um die Taille und einem dazu passenden Band, das in ihren langen blonden Zopf gebunden war. Lydias Eintreten löste ein misstönendes Getöse aus: Die Klavierspielerin stützte sich mit dem Ellenbogen auf den Tasten mit den tiefsten Tönen ab und wirbelte auf dem Hocker zu ihr herum. »Endlich wach!«, rief sie. »Hat die Musik es fertiggebracht?«
Lydia brauchte einen Moment, um sich auf ihre guten Manieren zu besinnen. »Nein, ganz bestimmt nicht«, sagte sie. »Ich … « Doch dann sprang das Mädchen vom Klavierhocker auf, und Lydia verschlug es vor Überraschung erneut die Sprache. Das Mädchen war erstaunlich schön und ihr Kleid doch nicht das einer Schülerin, sondern eines dieser neuen »ästhetischen Kleider«, dessen locker fallende Falten eine Figur zum Vorschein brachten, die eher fraulich als kindlich war. Wie alt war sie wirklich? Ihr Gesicht war herzförmig, ihre Haare von diesem unwahrscheinlichen Platinblond, das mit zunehmendem Alter meist nachdunkelte, ihre Augen so riesengroß und blau wie die eines Neugeborenen. Vielleicht war sie sechzehn? »Verzeihung«, sagte sie. »Ist … Ist dein Vater da?«
Das Mädchen lachte. »Schön wär’s.« Als sie vortrat, lag die Ironie dieses Lachens noch auf ihrem Gesicht, was Lydia dazu veranlasste, ihre Schätzung augenblicklich nach oben zu korrigieren. Die Frau war mindestens zwanzig.
Sie räusperte sich. »Entschuldigen Sie. Ich fürchte, ich bin im Kopf noch nicht ganz klar.«
»Das glaube ich gern.« Die Frau hatte einen merkwürdigen Akzent – in einem Moment noch flach und amerikanisch, und schon im nächsten ganz und gar englisch. »Von Chloroform kann man stundenlang bewusstlos sein. Oder war es Äther? Wir konnten es nicht mit Sicherheit sagen.«
»Äh … Ich habe keine Ahnung.«
»Nun, waren Ihre Träume süß? Oder beängstigend?«
»Beängstigend.«
Die Frau verzog das Gesicht. »Dann
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