Ruf der Daemmerung
Willst du Ali mit nach Braunschweig schleppen? Als irischen Austauschschüler ausgeben?«
Die Idee war Viola bereits gekommen. In Roundwood hatte das schließlich problemlos funktioniert und in Braunschweig spielte man kein Hurling. Allerdings war das Sekretariat ihrer Gesamtschule sicher besser organisiert als das der Roundwood High. Ganz abgesehen davon, dass Ahi schon für die Reise bessere Papiere brauchte als einen am Computer gebastelten Ausweis.
»Ich weiß es einfach noch nicht ...«, hob sie an, aber eine Bewegung von Katja gebot ihr Schweigen. Die Mädchen hatten inzwischen das Bootshaus passiert und wanderten am See entlang - im weitesten Sinne auf Ahis Wohnwagen zu, aber der lag natürlich nicht in der ersten Reihe am Wasser, sondern am äußersten Ende des Platzes zwischen Bäumen versteckt. Dennoch hörte man jetzt unverkennbar Harfenklänge. Violas Herz krampfte sich zusammen. Nicht nur wegen Katja, sondern auch, weil Ahis Melodie so unsagbar traurig und sehnend klang.
»Was ist das denn?«, erkundigte sich Katja. »Klingt ja irre, wie Sphärenmusik oder so was ...«
»Harfe«, verriet Viola und hoffte auf Katjas eher schwach ausgeprägte Musikkenntnisse. Shawna hatte gleich gehört, welch ein Meister hier am Werk war, aber Katja konnte sie Ahis Spiel mit etwas Glück als Hausmusik verkaufen. »Ali spielt ganz gut. Aber er soll das nicht, man könnte ihn vom Haus aus hören ...«
Entschlossen machte sie sich auf den Weg zum Wohnwagen. Katja folgte ihr kopfschüttelnd. Natürlich hätte Ahi bei dem Krach im Haus auch Schlagzeug spielen können, ohne bemerkt zu werden. Aber Viola wusste, dass auch ihr Vater mitunter die Flucht ergriff. Wenn Bill und Ainné es zu bunt trieben, redete er sich gern mit irgendeiner Inspektion heraus und verschwand ins Bootshaus, um eine Zigarette zu rauchen. An sich hatte er sich das vor Jahren abgewöhnt.
»Und ... das da?« Viola hatte gar nicht aufgesehen, aber für Katja waren der See und die Berge im Mondschein verständlicherweise ein spektakulärer Anblick. Nun wies sie atemlos auf zwei silbrig leuchtende Pferde, die im Gras am Ufer standen. Der Nachtwind spielte mit ihren langen, seidigen Mähnen und Schweifen, aber sonst lauschten sie regungslos dem Harfenspiel. Die Köpfe hoch erhoben, die kleinen, feinen Ohren gespitzt und die hellen Augen weit geöffnet. Augen, in denen sich das Mondlicht spiegelte. Menschenaugen? Feenaugen? Die Kelpies wirkten, als wären sie geradewegs einem Märchenbuch entstiegen. Katja konnte sich an ihrem Anblick kaum sattsehen.
»Sie sind wunderschön!«, flüsterte sie. »Aber wo gehören sie hin? Ich seh gar keine Zäune ...«
Viola murmelte irgendetwas von wilden Ponys aus den Bergen, aber es fiel ihr schwer, ihre Gedanken zusammenzuhalten. Ahi zog sie in den Ring - in eine Gemeinschaft, von der er seine Familie ausschloss, die Hayu und Liaya aber trotzdem erspürten. Sie drängten hinein - und im Gegensatz zu Katja, die nur bezaubert war und es genoss, Teil der Musik zu werden, verstand Viola die »Worte« der Harfe und spürte die Gefühle der Kelpies auf den Weiden. Sehnsucht ... so tiefe Sehnsucht, dass es fast schmerzte. Und auch etwas wie Hoffnung, wobei Ahis Harfe nur von Harmonie sang - die anderen aber dachten an Vereinigung mit dem Clan.
Viola rannte jetzt fast. Sie musste die Musik beenden, sonst kamen die Kelpies womöglich noch näher heran und lockten Ahi mit ihren süßen Stimmen. Bacha im Überfluss ... Harmonie, die keiner störte ... Ganzheit statt Zerrissenheit ...
Viola, gefolgt von der verwirrten Katja, hämmerte an Ahis Tür. Der Junge öffnete nicht gleich. Er schien ein paar Augenblicke zu brauchen, um aus seiner Versunkenheit aufzutauchen.
Viola sah es in seinen Augen. Automatisch griff sie nach seinen Händen, um ihm das zu geben, was die Kelpies versprachen. Aber sie durften sich jetzt nicht in einer Umarmung oder einer Verschmelzung ihrer Seelen verlieren. Katja ...
Viola zwang sich zur Normalität.
»Bist du verrückt, Ali?«, wisperte sie. »Du weißt doch, dass du so laut nicht spielen darfst. Mein Vater ...« Sie brach ab, als sie die Verletzung in Ahis Augen sah. »Ich hab's nicht so gemeint ...«, flüsterte sie. »Es ist nur ... meine Freundin ...« Sie brauchte die Kelpies nicht zu erwähnen. Ahi musste sie gespürt haben. Und nun zog er Viola in seine Umarmung.
Sie vergaß Katja, die sich neugierig in dem spartanisch eingerichteten, unbeleuchteten Wohnwagen umsah. Viola vergaß die Welt
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