Ruf der Daemmerung
...«
Viola dachte im Stillen, dass wohl kaum einer so verrückt sein konnte, sich einem in Panik fliehenden Pferd in den Weg zu stellen. Geschweige denn einem Kelpie. Aber sie bezweifelte sowieso, dass sich Lahia, Ahlaya und Co. allzu schnell in Panik versetzen ließen. Ganz sicher nicht durch einen Holzzaun. Der Corral mochte für ein Pferd kaum zu überwinden sein. Aber wenn sich die Kelpies zurückverwandelten, konnten sie mühelos entkommen. Wenn sie überhaupt auf die Sache hereinfielen.
Shawna und Patrick waren dafür, die Pferdejagd erst am Sonntagmorgen anzugehen - zumal im Moment auch noch kein wilder Vierbeiner in Sicht war. Viola und ihr Vater schlossen sich ihnen an, wobei Viola hoffte, dann gar nicht erst mitkommen zu müssen. In den frühen Morgenstunden pflegte Kevin den Schlaf nachzuholen, den er der Familie nachts raubte. Ainné würde ihn garantiert nicht wecken und Viola konnte zu Hause auf ihn aufpassen.
Bill schüttelte jedoch den Kopf. »Wir gehen jetzt erst mal Kaffee trinken«, verkündete er. »Aber in der Dämmerung legen wir los. Dann sind die Biester doch meistens da, was sollen wir bis morgen früh warten? Außerdem kommen noch Helfer: Paddy Malone mit seinen Jungs ...«
Shawna unterdrückte ein Stöhnen, und selbst Ainnés Gesicht drückte keine Begeisterung aus. »Dann wird ja wohl mehr gesoffen als Pferde getrieben ...«, bemerkte sie.
Bill grinste. »Erst das eine, dann das andere«, erklärte er und sammelte Werkzeug ein. »Und nun macht, solange wir alle hier rumstehen, tauchen die Gäule nicht auf.«
»Paddy Malone ist der übelste Pferdehändler der ganzen Gegend«, erregte sich Shawna. Sie hatte Patrick und Viola unter einem Vorwand ins Bootshaus gelockt, während Ainné, Bill und Alan zum Haus gingen. »Und seine Söhne sind ein Brechmittel! Wenn du willst, kannst du bei mir schlafen, Vio, nicht, dass die Mistkerle noch über dich herfallen, wenn sie richtig voll sind. Ich konnte mich beim letzten Mal kaum wehren, als Bill die Typen anschleppte. Und jedes Mal wird wieder ein Pferd gekauft oder verkauft oder getauscht, und kein Mensch weiß, wo es hinterher landet. Die armen Wildpferde! Ich möchte am liebsten gar nicht mehr mitmachen ...«
Patrick zuckte die Schultern. »Von uns aus musst du nicht bleiben. Fahr nach Hause, und wir sagen, dir wäre schlecht geworden.«
Shawna biss auf ihrer Lippe herum. Viola konnte sich vorstellen, wie es in ihr aussah. Einerseits war ihr der Pferdefang zuwider, andererseits wollte sie das Spektakel aber auch nicht verpassen. Außerdem war Patrick da - und Shawna sah ihn zu selten, um sich jetzt zurückzuziehen. Mal ganz abgesehen davon, was sie am Montag womöglich von Bill und Ainné zu hören bekam.
»Ich weiß nicht ... ich ...« Shawna druckste herum und wurde dabei rot.
»Vielleicht kommen die Pferde ja gar nicht«, bemerkte Viola. »Ich meine ... du sagst doch immer, dass Pferde intelligent sind. Und den Kel ... den Ponys kann kaum entgangen sein, dass wir da zwei Tage gehämmert haben. Jedenfalls ist absolut nicht sicher, dass sie Bill ins Netz gehen!«
Patrick zog die Augenbrauen hoch. »Hoffen wir mal das Beste«, meinte er. »Aber was solche Sachen angeht, hat der alte Bill was drauf. Es stimmt, dass er früher Pferde in den Bergen gefangen hat, als es noch mehr davon gab. Mein Vater hat das bestätigt. Das hier macht Bill nicht zum ersten Mal - das könnt ihr glauben.«
Shawna seufzte und verzog sich dann mit Patrick in den Wohnwagen. Viola hätte sich am liebsten angeschlossen, aber bestimmt würde sie stören. Mit leisem Neid dachte sie an die Stunden, die sie mit Ahi in dem Caravan verbracht hatte. Sie hatten angeschmiegt aneinandergelegen und den Melodien des Tages oder der Nacht gelauscht. Für den Sänger des Sees verschmolz jeder Alltagston - das Rauschen des Windes in den Bäumen, der Gesang der Vögel, das Plätschern des Baches und selbst Ainnés zänkische Stimme, die nach Alan oder Viola rief - zu einem Lied, und verbunden mit Ahi hatte Viola daran teilgehabt. Shawna und Patrick küssten sich jetzt wohl eher zu den sanften Klängen einer Kuschelrock-CD. Viola versuchte, sich damit zu trösten, dass dies nicht vergleichbar war. Aber dafür war es betörend normal. Sie hätte alles dafür gegeben, noch einmal von Ahi umarmt und geküsst zu werden - zu welcher Musik auch immer!
Schließlich wandte sie sich widerstrebend zum Haus, vor dem inzwischen ein großer und sicher teurer Geländewagen parkte. Mit
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