Ruf der Daemmerung
...«
»Ali ...«, flüsterte sie. Als sie sich von ihm löste, spürte sie, dass sie am ganzen Leib zitterte. Aber sie fühlte sich nicht schwach, wie sonst, nachdem sie ihn berührt hatte. Und auch Alistair wirkte nicht mehr blässlich und erschöpft, sondern kräftig und schön.
Er half ihr aus dem nassen Regenmantel und hob sie sanft auf. »Hab keine Angst. Ich kann dir heute nichts nehmen ... ich bin satt ...«
Seine Stimme klang beruhigend und zärtlich, aber die Worte jagten ihr Schauer über den Rücken.
»Viola ...« Er sang ihren Namen.
»Kelpie!« Sie wusste nicht, ob sie flüsterte oder schrie.
»Ahi«, nannte er noch mal seinen Namen.
Diesmal verstand sie ihn besser. Er hieß nicht Alistair. Sein Name war so fremdartig wie sein Wesen.
Sie wehrte sich gegen seine Arme.
Ahi ließ sie sanft zu Boden gleiten. »Sicher, du kannst allein gehen ...« In seiner Stimme lag vages Bedauern. »Schlaf gut, Viola ...«
Diesmal konnte sie die Verwandlung in den grauen Hengst fast sehen. Das Tier trabte zum Wasser und verschmolz mit den Wellen. Es gab keinen Zweifel ... aber andererseits ... vielleicht fantasierte sie ... vielleicht war sie überhaupt schon tot ...
Die Kälte und Nässe um sie herum machten das unwahrscheinlich. Aber da drüben war das Haus. Hell erleuchtet und einladend ...
Viola schleppte sich auf die Lichter zu. Der Strom schien wieder da zu sein. Sie drückte die Türklingel, klopfte, warf sich gegen die Tür.
Sie verlor das Bewusstsein, als sie ins Trockene fiel.
6
Die nächsten Stunden verbrachte Viola in einem Taumel zwischen Müdigkeit und Überreiztheit. Sie war schnell wieder zu sich gekommen, nachdem Ainné sie geschüttelt und ihr aus den nassen Sachen geholfen hatte. Als ihr Vater und Bill eine Stunde später eintrafen - völlig außer sich natürlich und am Ende ihrer Kräfte -, hockte sie bereits in Decken gewickelt, aber immer noch zitternd, am Kamin und hielt sich an einem Becher Tee fest. Ainné hatte reichlich Whiskey und Zucker hineingefüllt. Eigentlich mochte Viola die Mischung nicht, aber im Moment war alles willkommen, was Wärme spendete - und vielleicht die rasenden Gedanken zur Ruhe brachte, mit denen Viola sich herumschlug. Schließlich musste sie auch noch eine halbwegs glaubwürdige Geschichte erzählen, die ihre Rettung erklärte.
Letzteres war gar nicht so einfach, denn Bill hatte alles vom Ufer aus gesehen und ihr Dad war direkt hinter ihr gewesen. Wie sie später erfuhr, hatte er sogar versucht, ihrem abtreibenden Boot zu folgen. Er hatte seine ganze Kraft gebraucht, um schließlich wieder ans Ufer zu kommen. Natürlich war er dabei genauso durchnässt worden wie Viola und obendrein verzweifelt über den offensichtlichen Verlust seiner Tochter. Bill und John hatten ihn fast tragen müssen, als sie die Suche nach Louise und Viola schließlich aufgaben und sich durch Sturm und Regen zurück zum Campingplatz kämpften. John war dann zu seinem Wohnmobil gegangen, wo sich seine Kinder sicher bereits sorgten. Bill hatte ihm versprochen, die Rettungswacht zu verständigen, aber in diesem Wetter würden auch professionelle Helfer kaum etwas erreichen. Violas Vater jedenfalls hatte alle Hoffnung verloren, seine Tochter lebend wiederzusehen. Er brach in Tränen aus, als er sie sicher am Feuer sitzen sah.
»Angeschwemmt? Hier?«, fragte er schließlich, nachdem er sich wieder gefasst hatte und Violas mit stockender Stimme vorgebrachter Erklärung lauschte. »Und sonst erinnerst du dich an nichts?«
»Das kann eigentlich nicht sein ...«, brummte auch Bill. »Viel zu weit zum Schwimmen. Und bewusstlos in dem Sturm? Du wärst ertrunken ...«
»Nun, das ist sie aber nicht«, meinte Ainné knapp. »Wie ihr seht, ist sie ganz lebendig. Und weit gelaufen kann sie auch nicht sein, in dem Zustand, in dem sie war ...«
Viola dankte ausnahmsweise dem Himmel für Ainnés Desinteresse an den Problemen ihrer Mitmenschen. Dads neue Frau nahm die Geschichte ihrer Rettung einfach hin. Bill hielt ebenfalls nicht lange an seinen Zweifeln fest. Er kannte den See nur vom Angeln und auch das betrieb er meist vom Ufer aus. Geschwommen war er wahrscheinlich seit Jahren nicht mehr. Nur ihr Vater, der in dieser Nacht schließlich selbst gegen die Strömung angekämpft hatte, konnte die Sache nicht nachvollziehen.
»Es ist einfach ein Wunder ...«, stammelte er immer wieder und ließ Viola nicht aus den Augen, als könne sie womöglich wieder verschwinden. »Wir müssen ... wir
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