Ruf der Daemmerung
weiteren Tee ein - wobei sie diesmal selbst Whiskey hineinfüllte.
Am nächsten Morgen strahlte wieder die Sonne. Der Herbst am Lough Dan zeigte sich von der schönsten Seite und die Geschehnisse der letzten Tage schienen fast unwirklich. Louises Leiche war gestern abgeholt worden und die Obduktion hatte Tod durch Ertrinken ergeben. Man folgerte daraus, dass die Frau wohl doch noch beim Kanufahren vom Sturm überrascht worden war. Vielleicht war sie ja in die Strömung hineingeraten, die auch Violas Boot zum Kentern gebracht hatte, und hatte es nicht mehr geschafft, zum Ufer zu schwimmen. Die Einheimischen fanden das zwar seltsam, aber ansonsten argwöhnte niemand. Der Tod der Urlauberin wurde als tragischer Unfall zu den Akten gelegt. Die Richardsons waren abgereist, sobald die Leiche freigegeben war.
Viola wäre auch wieder zur Schule gegangen, aber es war Samstag. Also gab es keinen Grund, ihr Vorhaben aufzuschieben. Sie wanderte - wieder mal in Gummistiefeln, da der Boden immer noch aufgeweicht war - am See entlang und suchte nach Ahi.
Zunächst wurde sie dabei nicht fündig.
Aber dann, gegen Abend, als sich wieder leichte Nebel bildeten, machte sie eine Beobachtung, die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ: Shawna stand auf dem Uferweg, die Halfter der Ponys in der Hand, die sie für die Nacht hereinholen wollte, und blickte wie gebannt auf einen grauen Hengst, der zwischen Schilf und Wäldchen graste.
»Nicht! Geh nicht hin!« Viola wollte schreien, aber ihre Stimme versagte. Fassungslos sah sie, wie ihre Freundin auf das silbergraue Pferd zuging, das sie mit blauen Menschenaugen musterte. Augen, in denen sich der See spiegelte ... Ahis Augen.
Der Hengst kam zutraulich näher, als Shawna zwischendurch anhielt und auf ihn einsprach. Sie wusste, wie man Pferde einfing, ohne sie zu erschrecken. So näherte sie sich auch nicht frontal, sondern seitlich, und sie bewegte sich langsam, statt zu laufen.
Aber dieses Pferd war nicht ängstlich. Shawna wirkte entzückt, als es sie nah genug an sich heranließ, um seine Stirn unter dem langen, seidigen Schopf zu streicheln. Erst als sie die Hand mit dem Halfter hob, wich es zurück.
Viola bewegte sich langsam auf die beiden zu. Sie war nach wie vor wie gebannt, aber sie wusste, dass sie dies beenden musste, bevor es wirklich gefährlich wurde. Dies hier war kein Pferd - es war ein Kelpie auf Beutezug! Viola war sich jetzt sicher, jede bis zuletzt gehegte Hoffnung auf eine andere Erklärung fiel von ihr ab. Wie auch immer man sich die Existenz dieses Wesens erklären sollte: Es war da und es war böse!
»Das willst du nicht, Schöner?«, fragte Shawna sanft. »Das Halfter magst du nicht? Und nicht mit Menschen mitgehen? Kannst recht haben, Menschen sind nicht immer nett zu Pferden ... Von Bill zum Beispiel würde ich mich auch nicht erwischen lassen. Aber ich tu dir nichts, ich mag Pferde. Schau, ich lege das Halfter weg. Darf ich dich jetzt wieder anfassen?«
Der Hengst stand still, als Shawna ihn erneut streichelte und sein Fell dabei fachkundig nach einem Brandzeichen oder einem anderen Hinweis auf einen Besitzer untersuchte.
»Nein, gebrannt bist du nicht ...«, meinte sie schließlich bedauernd. »Also kommt höchstens noch ein Chip infrage ... Ich müsste mir ein Lesegerät leihen ... Bist du morgen noch hier, mein Schöner? Was für ein weiches Fell du hast ... und diese wundervolle Mähne ... Du bist das schönste Pferd, das ich je gesehen habe ...«
Viola wusste das Gefühl nicht zu deuten, das brennend in ihr aufstieg. Es konnte keine Eifersucht sein ... Sie mochte keine Pferde! Aber dies war kein Pferd ... Sie dachte an Ahis starke Arme, den seidigen Stoff seiner Kleidung, sein dichtes, glattes Haar, in das sie vorgestern gefasst hatte. Sie dachte an das kräftige Schlagen des Herzens in seiner Brust, wie schön es war, sich an ihn zu schmiegen und sich sicher zu fühlen ...
Und nun streichelte Shawna zärtlich den Hals des silbernen Hengstes ...
Viola griff nach einem Stein und warf ihn ins Wasser.
Das Geräusch ließ Shawna auffahren - und erschreckte den Hengst. Er sprang anmutig von Shawna weg und galoppierte in Richtung Wald davon. Wieder so leicht, als ob seine Hufe kaum den Boden berührten. Vor dem Wald blieb er allerdings noch einmal stehen - und Viola erschien es, als ob ihre Blicke sich kreuzten.
»Ich will dich treffen!«, flüsterte sie und versuchte, dem Hengst diese Worte durch die Kraft ihres Wunsches zu übermitteln.
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