Ruf der Daemmerung
Pferde. Und jetzt hatte er lediglich an die Rettung der Boote gedacht, nicht an mögliche Gefahren für Viola und ihren Vater.
Sie sah aus dem Augenwinkel, wie Alan versuchte, sein eigenes Kanu klarzumachen. Hoffentlich reichte wenigstens seine Kraft, es an Land zu rudern. Violas eigene reichte sicher nicht. Sie versuchte zwar, die Paddel zu benutzen, aber sie hätte nicht mal bei ruhiger See gewusst, wie man sie richtig einsetzte. Und jetzt ... Sie konnte nur hoffen, dass die Wellen das Kanu irgendwo an Land warfen. Aber die Chance schwand stetig. Das Bötchen lief jetzt schon voll Wasser, da jede Welle hereinschwappte. Es würde zweifellos irgendwann kentern. Viola versuchte verzweifelt, Wasser hinauszuschöpfen. Aber auch das war hoffnungslos - und ihre ungeschickten Bewegungen gaben dem Kanu obendrein den Rest. Es schaukelte bedenklich und war jetzt noch anfälliger für das hereinschwappende Wasser. Viola kämpfte um ihr Gleichgewicht, aber zu spät. Eine Welle brachte das Kanu vollends zum Kippen und spülte Viola in das aufgewühlte, eiskalte Wasser. Sie versuchte zu schwimmen, aber der schwere Regenmantel, die Gummistiefel und die mit Wasser vollgesogenen Pullover zogen sie gnadenlos in die Tiefe.
Viola versuchte zu schreien, schluckte eiskaltes Wasser - und gab schließlich auf. Es war seltsam, dass sie an Alistair dachte, während der See sie verschluckte.
Und dann war auf einmal etwas Großes, Dunkles neben ihr. Instinktiv fasste sie zu, krampfte die Hände um ... ja was, Haare? Auf jeden Fall zog das Ding sie nach oben. Sie konnte atmen - Viola sog die regengeschwängerte, kalte, aber so unendlich wohltuende Luft in ihre Lungen, fand dadurch Kraft, sich besser festzuhalten - und sah jetzt auch, dass sie sich an einen kräftigen, fein geschwungenen Hals klammerte. Oder besser gesagt, die lange Mähne, die diesen Hals zierte. Sie schwamm mit einem Pferd! Ein großes, starkes Tier zog sie durchs Wasser. Es musste gekommen sein, um sie zu retten.
Mit der Leben spendenden Luft kehrte dann aber Violas Befähigung zum Denken wieder und ihre Erleichterung wich neuer Angst.
Ein Pferd war ins Wasser gesprungen, um sie zu retten? Taten Pferde so etwas? Hunde vielleicht - und von Delfinen wurde berichtet, dass sie oft Seeleute in Not gerettet hätten. Aber hier gab es keine Delfine ...
»Up, ride with the kelpie ...«
Das Lied von Jethro Tull explodierte in Violas gemartertem Hirn.
»Up, ride with the kelpie, I'll steal Your soul to the deep ...«
Sie würde ihre Seele verlieren ... Oder noch schlimmer, das Pferd würde sie zum Grund des Sees zerren und sie dort auffressen ...
Andererseits hatte es sie gerade nicht nach unten gezogen, sondern an die Wasseroberfläche, und jetzt durchpflügte es die Wellen zielsicher in Richtung Ufer. Allerdings nicht zum Strand bei der Insel. Das ... Pferd - oder das Kelpie? - schien eher ein Strandstück näher am Campingplatz anzusteuern. Vielleicht doch eins von Bills Ponys? Aber die hatte Shawna vorhin in den Stall gebracht. Im Dunkeln und im Wasser des Sees konnte Viola keine Farbe erkennen. Aber sie meinte fast, es zu spüren. Es war kein Scheckpony, kein kleiner, kompakter Cob, der sie hier durch die Wellen zog, sondern ein großer, silbergrauer Hengst mit blauen Menschenaugen. Violas Finger erlahmten. Sie legte dem Pferd die Arme um den Hals. Es war kalt, so kalt ... Wenn sie nicht bald an Land kam, würde sie zwar nicht ertrinken, aber an Unterkühlung sterben.
Das Pferd ließ sich mühelos von einer Welle an Land spülen. Hinter dem Bootssteg und dem Bootshaus, nah den Felsen, an denen Ali neulich auf sie gewartet hatte, betrat es festen Boden.
Viola konnte ihre Arme nicht lösen. Willenlos hing sie an der Seite des Pferdes - und spürte, dass es sich vorsichtig neben ihr niederlegte. Sie lag an seinen Körper gepresst, schloss sekundenlang die Augen ... und spürte dann, dass jemand sie umarmte, oder besser, im Arm hielt. Wo der Körper des Pferdes gewesen war, schmiegte sie sich jetzt an die warme Brust eines Menschen. Sie fühlte ein Herz klopfen unter dem leichten Stoff, den sie schon so oft bewundert hatte. Sekundenlang überließ sie sich einem Traum, in dem sie sich so geborgen und sicher fühlte wie niemals zuvor. Dann richtete der Junge sich auf.
Zärtlich strich er ihr das Haar aus dem Gesicht und lächelte sie an. »Viola ... es ist so schön, dich zu halten. Aber du musst ins Haus, du musst die Sachen ausziehen. Du kannst sonst erfrieren
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