Ruf der Daemmerung
»Ich muss dich sehen!«
Sie wusste nicht, ob Kelpies Gedanken lesen konnten, aber seit sie Ahi kannte und durchschaut hatte, hielt sie alles für möglich.
Vorerst traf sie allerdings nur Shawna, ganz verklärt und hingerissen von der Begegnung mit dem Kelpie.
»Du bist es, Viola! Ich dachte eigentlich, es wäre Guinness. Aber egal. Hast du ihn gesehen? Den Hengst? Das wilde Pferd? Meine Güte, ich hatte schon geglaubt, du hast ihn dir vielleicht eingebildet, ich hab so oft nach ihm gesucht. Aber jetzt war er da. Und er ist ganz lieb, Vio! Er muss irgendwo ausgebrochen sein, wer weiß, wie weit er gelaufen ist! Schade, dass ich ihn nicht fangen konnte. Aber vielleicht beim nächsten Mal, er ließ sich ja schon anfassen. Es ist unglaublich!«
Viola brauchte nur gelegentlich zu nicken oder etwas zu murmeln, ansonsten bestritt die aufgeregte Shawna die Unterhaltung allein - während Viola überlegte, wie sie das Mädchen warnen konnte. Garantiert würde Shawna jetzt praktisch ihr Lager am See aufschlagen. Sie würde das Kelpie wieder treffen, und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie es reiten würde. Und dann ...
Viola musste das verhindern! Sie würde ein ernstes Wort mit Ahi reden! Aber was war, wenn er nicht auf sie hörte?
»Shawna, du ... du wirst es doch nicht reiten, oder?«, fragte sie schließlich fast tonlos. »Dieses Pferd ...«
Shawna lachte. »Ich bin doch nicht lebensmüde!«, beschied sie Viola gelassen. »Ein Pferd, das ich nicht kenne, und ohne Sattel und Zaum, da müsste ich ja verrückt sein! Wer weiß, ob den überhaupt schon mal jemand geritten hat! Das geht nämlich nicht von jetzt auf gleich, weißt du. Man muss Pferde vorbereiten. Wenn man sich einfach so draufsetzt, kriegen sie Angst und buckeln einen herunter. Nein, nein, das kommt nicht infrage. Ich versuche jetzt erst mal herauszufinden, wem der Schönling gehört ...« Sie lächelte verträumt. »Aber falls sich derjenige findet - und wenn das Pferd wirklich zugeritten ist ... dann würde ich es natürlich für mein Leben gern mal reiten ...«
Für ihr Leben gern. Viola zitterte innerlich. Aber vorerst hatte Shawna wohl nichts zu befürchten. Man musste schon »verrückt sein«, um ein Kelpie zu reiten. Verrückt wie die Touristen, die Weihnachten im Lough Dan schwammen. Wie Louise Richardson ...
Viola hatte die Hoffnung eigentlich aufgegeben, Ahi noch an diesem Tag zu treffen. Es war bereits dämmerig, als Shawna sich endlich beruhigt hatte und mit Bills Ponys Richtung Stall abzog. Viola wanderte noch ein bisschen am See entlang, aber Ahi ließ sich nicht blicken. Bis sie zurück zum Campingplatz kam. Da sah sie ihn hinter dem Bootshaus. Er saß auf einem der Steine und wartete.
»Viola ...«, sagte er sanft und streckte ihr die Hände entgegen.
Viola trat zu ihm, ergriff sie aber nicht.
Ahi senkte den Kopf. Selbst im Zwielicht sah Viola, wie sein Haar glänzte. Er wirkte erholt, sein Gesicht schien voller zu sein und seine seltsame, exotische Schönheit verschlug ihr den Atem. Allerdings wirkte er schuldbewusst.
»Du kannst mich anfassen«, flüsterte er. »Jetzt ist es nicht gefährlich.
»Weil du satt bist«, bemerkte Viola mit zitternder Stimme. Sie spürte den brennenden Wunsch, ihn zu berühren, aber sie hielt sich zurück. »Ich habe schon verstanden. Zu gut, fürchte ich.«
»Ich kann nichts für das, was ich bin«, sagte Ahi leise und hob den Kopf. »Ebenso wenig wie du.«
»Und was bist du?«, schleuderte ihm Viola entgegen. »Ein ... Monster? Ein Geist?«
»Ein Kelpie«, gestand Ahi. »So jedenfalls nennen uns die Menschen. Wir nennen uns die Sänger der Seen. Amhralough ... Und wir sind keine Geister. Wir haben Körper ... auch wenn wir uns wandeln ... Monster? Was sind Monster?«
»Ungeheuer!«, sagte Viola kalt. »Mörder, hinterhältige Raubtiere, die Menschen auflauern ...«
»Ich habe dir nicht aufgelauert«, meinte Ahi gekränkt.
»Aber Shawna!« rief Viola triumphierend. »Ich habe euch gesehen. Vorhin bei der Pferdekoppel!«
Ahi nickte gelassen. »Ich dachte, du wärest es. Ich habe auf dich gewartet. Und ich wollte ... ich wollte es dir diesmal zeigen ... Was ich bin. Deshalb ... deshalb bin ich in der Gestalt der Kleinen Seele gekommen. Aber dann war da dieses Mädchen ...«
»Hat sie dir gefallen?«, rutschte es Viola heraus. »Ich meine ...« Sie verhaspelte sich.
»Nicht so, wie du mir gefällst«, flüsterte Ahi. »Nicht so, dass ich geben möchte ...«
Viola runzelte die Stirn.
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