Ruf der Daemmerung
hinterhältig gelten, aber untereinander hatten sie keine Geheimnisse.
Shawna lächelte Ali zu. »Du musst in der Schule von Dänemark erzählen!«, sagte sie. »Ich glaube, niemand von uns war bisher da. Wir reisen nicht viel hier in Roundwood, jedenfalls nicht in kalte Länder. Im Sommer kommen schließlich all die Touristen, da können wir nicht weg. Und im Winter fliegen wir dann lieber auf die Kanaren oder sonst wohin, wo die Sonne scheint.«
Viola konnte das nur hoffen. Sie hatte zwar einen Reiseführer über Dänemark für Ahi aufgetrieben, den er pflichtschuldig gelesen hatte, aber einer ernsthaften Befragung durch jemanden, der das Land kannte, wäre er sicher nicht gewachsen.
Im Schulbus ging aber erst mal alles gut. Die Schüler interessierten sich nicht sonderlich für Alis Herkunftsland, er fiel vorerst eher durch sein fremdartiges Aussehen auf. Die Mädchen tuschelten auch schon über sein Verhältnis zu Viola - und sie verfielen reihenweise seinen Traumaugen und seinem sanften Lächeln. Der See lag an diesem Tag unter verhangenem Sonnenlicht - am Morgen hatte es geregnet, und jetzt stand ein Regenbogen über den Bergen. Seine Farben schienen sich in Ahis Augen zu spiegeln, es war, als tanzten heute Lichter vor der fahlblauen Iris. In Verbindung mit dem blauen Hemd, der Jeans und einer dunkelblauen Wachsjacke, die Violas letztes Taschengeld verschlungen hatte, sah das atemberaubend aus. Die grüne Schuluniform würde ihm weniger gut stehen, aber die würden sie erst anschaffen, wenn die Klippe der Anmeldung genommen war.
Während die Mädchen Ahis Erscheinung rückhaltlos bewunderten, beäugten die Jungen ihren neuen Mitschüler skeptisch. Besonders Hank und Mike gefiel es nicht, dass er Moiras und Jennys Blicke von ihnen abzog, und auch sonst wirkte er fremdartig. So hatte sich Ahi entschlossen geweigert, sein langes Haar abschneiden zu lassen. Um trotzdem nicht allzu sehr aufzufallen, hatte ihn Viola überredet, es wenigstens im Nacken zusammenzubinden. Sie hätte ihm dabei zu einem schlichten Band geraten, aber er wählte lächelnd die silberne Spange, mit der sie selbst ihren Pferdeschwanz bevorzugt bändigte.
»Schenkst du mir die?«, fragte er fröhlich. »Sie hat mir von Anfang an gefallen, sie sieht so schön aus in deinem Haar. Und dann habe ich auch etwas von dir bei mir, so wie du meinen Stein trägst.«
Viola wusste nicht, wie sie ihm erklären sollte, dass Jungen in ihrem Volk selten Silberschmuck trugen, und er ließ ihre Bedenken auch nicht gelten. Stattdessen verwies er auf das Bild eines Filmstars in einer der Zeitschriften, die sie ihm mitgebracht hatte, um ihn vorsichtig an ihre Kultur zu gewöhnen. »Schau, der trägt sein Haar genauso. Und seine Spange ist noch auffälliger. Warum sollte ich also nicht deine tragen?«
Viola schnappte nun schon im Bus die Worte Weibisch und Schwul auf, mit denen die Jungs den Neuen argwöhnisch bedachten.
»Spielste Hurling?«, versuchte sich schließlich Hank, der gefeierte Star in dem irischen Nationalsport, mit einer Kontaktaufnahme.
Ahi sah ihn freundlich erstaunt an und Viola hätte sich prügeln können. Warum zum Teufel hatte sie ihn nicht darauf vorbereitet?
»Ich spiele Harfe«, sagte Ahi mit seiner fein modulierten Stimme.
Die Jungen grölten vor Lachen.
»Er kommt aus Dänemark, da spielt man kein Hurling!«, nahm Shawna Ahi in Schutz. »Und ihr werdet es zwar nicht glauben, aber man kann trotzdem überleben«, fügte sie hinzu. »Funktioniert in so ziemlich allen anderen mehr oder weniger zivilisierten Gegenden.«
Hank und seine Jungs pfiffen sie aus.
Aber zum Glück hielt der Bus jetzt vor der Schule und Shawna lotste Ahi auf dem direkten Weg ins Sekretariat. Die Mädchen hatten vereinbart, dass Shawna den Austauschschüler einführen sollte. Das erschien plausibler als eine Vorstellung durch Viola, die schließlich selber neu war. Dennoch konnte Viola sich nicht losreißen und schloss sich mit einer an sich nichtigen Frage an, die ihre Benotung in Gälisch betraf. Sie wartete damit geduldig, bis Shawna und Ahi ihr Anliegen vorgetragen hatten.
»So, und du willst mal ein bisschen Gälisch und Hurling lernen?«, neckte die Schulsekretärin den Neuen.
Viola fiel ein Stein vom Herzen, dass sie ihn in Empfang nahm und nicht die Direktorin. Mrs Murphy war nett, aber nicht die hellste.
Ahi schaltete allerdings auch nicht sehr schnell. »Ich möchte in allen Fächern unterrichtet werden«, sagte er höflich. »Wenn Sie
Weitere Kostenlose Bücher