Ruf der Daemmerung
sie mit einem Blick an, den sie lieber nicht deuten wollte. Ahi machte sich nichts aus einem Schinkensandwich - aber auch er mochte Heißhunger auf Seelen kennen ...
14
Zwei Stunden später - Viola hatte gerade den Computer in Gang gebracht und fragte sich, ob sie lieber Katja eine Mail schicken oder sich endlich an das Bio-Referat machen sollte - klingelte Shawna an der Tür der McNamaras. Viola hörte ihre Stimme unten und hätte sie am liebsten gleich heraufgerufen, aber das blonde Mädchen musste sich erst mit Bill auseinandersetzen.
»Ich bin bestimmt nicht zu spät gekommen, Bill, und ich hab mich auch nicht mit der Zeit vertan. Die Pferde waren pünktlich fertig, aber die Leute sind einfach nicht aufgetaucht. Ich hab auch noch in Bayview House angerufen und Moira hat nachgesehen, ob sie im Hotel waren. Aber die Schlüssel waren an der Rezeption - keine Chance, die Typen zu erreichen.«
Bill schnaubte. »Haste wenigstens noch 'n bisschen gewartet?«, fragte er missmutig. Er schien fest entschlossen, Shawna die Schuld an dem ausgefallenen Ausritt in die Schuhe zu schieben.
»Die Gäste kommen manchmal bis zu einer halben Stunde zu spät!«, fiel auch Ainné ein.
»Ich bin hier, Ainné!« Viola hörte es Shawnas Stimme an, wie genervt die Freundin war. Das Mädchen blieb allerdings höflich wie immer, auch wenn sie ein bisschen schärfer klang. »Das heißt, ich habe seit fünf Uhr gewartet. Ich habe die Pferde fertig gemacht, gewartet, abgesattelt, gefüttert und noch ein bisschen Sattelzeug geputzt. In der ganzen Zeit hat sich keiner blicken lassen. Die haben es einfach nicht ernst gemeint mit ›auch im Regen‹. Hat man doch immer mal wieder.« Shawna war sauer und bestimmt durchnässt und verfroren, aber nicht beunruhigt. In den nächsten Minuten besänftigte sie Ainné, indem sie Kevin ein bisschen herumtrug. Dann endlich stieg sie die Treppe hoch und ließ sich aufatmend auf Violas Bett fallen. Ihr Haar war nass und klebte am Kopf. Sie trug Jeans, einen uralten Pulli und roch nach Pferd.
»Puh, was für ein Tag! Es regnet Katzen und Hunde, kein Wunder, dass die Typen keine Lust hatten zu reiten. Ich hab auch zu nichts Lust. Außer vielleicht ... kann ich gerade E-Mails checken, Viola? In der Schule bin ich nicht dazu gekommen - aber gerade heute bräuchte ich was Aufbauendes von Patrick!«
Patrick würde nicht besonders aufbauend mailen, sondern eher schimpfen, wenn er von Shawnas verlorenem Nachmittag in Bills Pferdestall hörte. Schließlich hatte sie wieder kostenlos gearbeitet - und dafür noch Tadel bezogen. Aber Viola hielt ihr das jetzt lieber nicht vor. Stattdessen schob sie der Freundin den Laptop hin. Shawna klickte sich zu ihrem Mailanbieter. »Deshalb bin ich aber eigentlich nicht gekommen«, bemerkte sie dabei. Es schien ihr immer etwas peinlich sein, Viola um Internetzugang zu bitten. »Eigentlich geht's mehr um Ali. Hast du dem einen CD-Spieler hingestellt? Jedenfalls dudelt er da Harfenmusik ab. Total schön, wenn's dir nichts ausmacht, kannst du die CD vielleicht mal für mich brennen. Aber dein Daddy ist doch noch draußen, nicht? Und Bill oder Ainné könnten auch mal dort vorbeikommen, gerade Ainné. Früher hat sie abends immer noch einen Rundgang gemacht ...«
Den machte zurzeit Violas Vater. Aber bei diesem Regen konnte man davon ausgehen, dass er bestenfalls das Bootshaus inspizierte und wahrscheinlich sowieso nur den Zeitungsständer im Laden. Aber Viola erkannte die Gefahr natürlich gleich.
»Verdammt, die Harfe!«, rutschte es ihr heraus. »Dabei hatte ich das eher als Gag gemeint, kann doch kein Mensch spielen auf den kleinen Dingern. Aber ...«
»Du meinst, Ali spielt selbst?«, fragte Shawna verblüfft.
Viola gratulierte sich zu dieser neuen, hausgemachten Komplikation. Konnte sie Shawna nicht in dem Glauben lassen, dass Ahi einfach Musik hörte?
»Doch nicht auf dieser Miniharfe, die Ainné rausgeschmissen hat? Komm, Vio, wo soll er denn das gelernt haben?«
Viola biss sich auf die Lippen. »Er spielt wohl Klavier«, behauptete sie. »Und die Harfe zupft man ja wohl so ähnlich ...« Das hatte Miss O'Keefe gesagt, aber es erklärte natürlich nicht, dass ein völliger Anfänger einem Einfachstinstrument Töne entlockte, die Shawna für die Arbeit eines Profimusikers hielt.
Das Mädchen runzelte dann auch die Stirn, aber Viola war schon aufgestanden und suchte in ihrem Schrank nach Pullover und Windjacke.
»Ist doch auch egal«, beschwichtigte sie.
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