Ruf der Daemmerung
erinnerte sich, dass man auch sie in den ersten Tagen andauernd nach Deutschland gefragt hatte. Inzwischen tat das niemand mehr. Sie war ein Mädchen aus Roundwood wie jedes andere auch. Allerdings benahm sie sich auch so! Wenn Ahi dagegen weiter auffiel ... Viola mochte gar nicht daran denken. Lieber sang sie Ahi auf seine Frage hin das Lied von Molly Malone vor und ertrug, dass die Leute stehen blieben, als Ahi die Melodie dann mit seiner schönen Stimme aufnahm. Dies zum Thema unauffälliges Verhalten. Viola seufzte. Immerhin würde sie ihren exotischen Freund gleich in den Schulfarben von Roundwood einkleiden. Dann fiel er zumindest optisch nicht mehr derart aus dem Rahmen.
Zum Glück spuckte der Geldautomat problemlos zweihundert Euro von dem Geld aus, das Viola per Internet auf ihr neues, irisches Konto überwiesen hatte. Der anschließende Einkauf ging ebenfalls rasch vonstatten, sodass Viola und Ahi noch fast eine halbe Stunde warten mussten, bis Alan und Ainné sie wieder abholten.
Viola war dabei etwas angespannt. Die Rückfahrt mit Ainné machte ihr Sorgen, denn Dads scharfzüngige neue Frau war nicht so leicht abzulenken. Wenn Ainné sich Alistair vorknöpfte, würde sie nicht von ihm ablassen, bis er sich hoffnungslos in Widersprüche verstrickt hätte. Aber die Angst erwies sich als unbegründet. Sowohl ihr Vater als auch Ainné hatten nur Augen für den kleinen Kevin und zeigten sich geschmeichelt, als Alistair ehrliche Begeisterung für das Kind äußerte.
Ainnés Examination des jungen »Dänen« beschränkte sich schließlich auf ein paar kurze Fragen zu Ahis Familie und seinem Aufenthalt in Roundwood, die er problemlos beantworten konnte. Nein, er habe keine Geschwister, ja, seine Großeltern lebten mit seiner Familie zusammen, doch, es gefiele ihm in Irland. Ainné fragte nicht einmal nach seiner Gastfamilie, was sich zum Problem hätte auswachsen können. Die O'Kelleys und McNamaras trafen öfter mit Shawnas Eltern zusammen als praktisch alle anderen Bewohner von Roundwood. Viola atmete folglich auf, fühlte sich am Abend nach diesem Tag aber wieder wie zerschlagen. Dazu brüllte das Baby die halbe Nacht und Ainné und Alan liefen abwechselnd mit ihm im Haus herum. Viola sehnte sich nach Ruhe - und nach Ahi. Sie konnte es kaum erwarten, ihn am Morgen wiederzusehen.
In den nächsten Tagen pendelte sich das Leben der McNamaras und ihres heimlichen Logiergastes ein, aber es wurde nicht unbedingt einfacher. Dabei kam Ahi in der Schule überraschend gut mit - der Unterricht in den meisten Fächern schien ihm Spaß zu machen und er nahm den Lehrstoff mühelos auf. In Musik und Kunst zeichnete er sich aus, was kein Problem darstellte. Die künstlerische Begabung passte zu Ahis Erscheinungsbild als sensibler Schöngeist. Niemand wunderte sich darüber, und gewöhnlich hätten sich auch Neandertaler wie Hank und Mike auf ein paar Frotzeleien darüber beschränkt. Da Ahi Schmähungen wie weibisch und schwul nicht persönlich zu nehmen schien, wäre das Ganze bald im Sande verlaufen. Schließlich machte es keinen Spaß, jemanden aufzuziehen, der sich einfach nicht beleidigt fühlte.
Wenn da nur nicht die Angelegenheit Hurling gewesen wäre! Viola verfluchte sich jeden Tag wieder für ihre Erklärungen und Anregungen bei jenem ersten Training im irischen Nationalsport. Hätte Ahi das Spiel einfach dumm gefunden, so hätte er sich kaum die Mühe gemacht, es zu erlernen - soweit man hier von Lernen sprechen konnte. Die Bewegungen hatte er schließlich sofort brillant beherrscht und das Regelbuch konnte er nach zwei Nächten auswendig. Danach war er der restlichen Mannschaft endgültig um Lichtjahre voraus, und wenn es den anderen doch einmal gelang, ihm den Ball abzujagen, so höchstens durch ein besonders perfides Foul. Hank zum Beispiel schlug ihm einmal frontal den Hurley in die Rippen und Ahi taumelte atemlos rückwärts. Benommen wankte er zum Spielfeldrand und die besorgte Viola machte sich zum Klatschobjekt der ganzen Schule, indem sie zu ihm lief und sich neben ihn ins Gras setzte. Ohne an die Folgen zu denken, nahm sie ihn in den Arm und gab ihm bacha - was die angeschlagenen Rippen zwar schnell heilte, die beiden aber endgültig als Liebespaar outete. Viola war sich nicht sicher, ob das ihrer Sache dienlich war. Bisher war nur darüber gewitzelt worden, dass sich sämtliche Mädchen wie verrückt um Alistair bemühten, aber jetzt war auch das letzte Argument der Hurlingmannschaft
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