Ruf der Daemmerung
müde. Schon der kurze Ausbruch hatte ihn Kraft gekostet. Die Harmonie war gestört. Viola wünschte sich sehnlichst, sie wiederherstellen zu können. Aber um den Kreis zu schließen, musste er sie berühren.
»Bei dir ist das etwas anderes ...«, sagte sie lahm - und wand sich unter seinem verständnislosen Blick. Bis sie endlich begriff, was ihre Weltsicht unterschied. Für Ahi waren alle Wesen gleich - zumindest gleich wertvoll. Er machte keinen Unterschied zwischen Prinz und Frosch. Und ein Übermaß an bacha machte ein Wesen zwar zur interessanteren Beute, aber nicht zwangläufig zur sympathischeren Persönlichkeit ...
Viola seufzte. »Und was willst du jetzt tun?«, fragte sie mühsam.
Ahi zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht. Werden sie mich hinauswerfen?«
Viola schüttelte den Kopf. »Aus der Schule, meinst du? Sicher nicht. Höchstens aus der Bio-AG. Sonst müssten sie uns ja alle rauswerfen. Die Frösche haben sämtlich überlebt.« Sie lachte nervös. »Und die Mädchen sind ganz verrückt nach dir. Selbst Moira, und die stand sonst auf Hank. Aber heute bist du der Held des Tages. Glaub mir, Ahi, niemand killt gern Frösche! Kannst du's nicht so sehen wie die Sache zwischen Ahlaya und dir? Sie wollte dich zum Jagen zwingen, aber du hast es nicht getan?«
Das war etwas anderes und Viola wusste es. Aber vielleicht brachte es ihr Ahi trotzdem zurück. Der Junge überlegte.
»Gut«, sagte er schließlich. »Dann versuche ich es weiter. Gibst du mir die Hand?«
Viola streckte ihm mit klopfendem Herzen die Hand entgegen und half ihm von der Brücke. Er nahm sie in den Arm, als er wieder auf festem Boden stand.
»Ich wollte gehen«, flüsterte er. »Aber ich konnte nicht. Du tust etwas mit mir, Viola ... Ich weiß jetzt, was Ahlaya fürchtete. Ich selbst knüpfe das Halfter, das mich bindet ...«
15
Die Sache mit den Fröschen hatte kein großes Nachspiel. Miss Rourke beschwerte sich zwar bei der Direktorin, aber die schien eher ein Herz für Amphibien zu haben als für übereifrige Biologielehrer. Auf jeden Fall bestand niemand darauf, dass die Klasse die Übung am lebenden Tier wiederholte. Stattdessen fand die übernächste Stunde im Computerraum statt und die Schüler sezierten den Frosch virtuell. Viola erfuhr das aber nur von Shawna, die weiter die Bio-AG besuchte. Sie selbst war mit Ahi zu Literatur gewechselt und las Gedichte von Robert Frost. Im Gegensatz zu Shakespeare schrieb der ein leicht verständliches Englisch und sie erkannte die Harmonie in seinen Versen. Ahi berauschte sich regelrecht daran und Viola atmete auf.
Kurz darauf begannen auch die Weihnachtsferien, eine Zeit, die Viola gefürchtet hatte. Ihre Mutter war immer noch in Amerika, sodass niemand fragte, warum sie Weihnachten nicht nach Deutschland flog. Aber Ahis Bleiben würde auffallen und Viola grübelte nächtelang über mögliche Ausreden. Tatsächlich wurden dann aber gar keine komplizierten Erklärungen gebraucht, da praktisch sämtliche Mitschüler über Weihnachten verreisten. Sogar Shawnas Eltern trennten sich für ein paar Tage von ihrem geliebten Restaurant - schließlich war die Tourismus-Saison nun wirklich vorbei. Die Berge lagen fast immer im Nebel und es regnete praktisch unausgesetzt. Shawna freute sich insofern auf die Dominikanische Republik und ihre exotische Tierwelt.
»Ich grüße ein paar Frösche von dir!«, neckte sie Ahi, verabschiedete sich von Bills Ponys und war dann erst mal weg.
Viola verbrachte ein enervierendes Weihnachtsfest mit der neuen Familie ihres Vaters und fand praktisch alles ätzend. Bill versuchte, Viola zur Hilfe im Stall heranzuziehen, nachdem Shawna ihn schnöde »im Stich gelassen« hatte. Da sie sich weiterhin standhaft weigerte, wandte Ainné ihre Vielleicht-Taktik bei Alan an. Violas Dad verbrachte also höchst widerwillig halbe Tage im Pferdestall, bestand aber darauf, dass Bill die Tiere vor dem Misten aus den Boxen entfernte. Der alte Mann konnte noch so oft Schmähungen wie Weichei vor sich hin grummeln. Violas Vater kam Pferden nicht zu nahe. Dennoch roch er anschließend durchdringend nach Mist und schien sich selbst nicht mehr leiden zu können. Kevin wurde zwar mit Geschenken überschüttet, schrie aber trotzdem die ganze Zeit. Der Geruch seiner Windeln vermischte sich mit dem Duft von Tannen und Mistelzweigen zu einer betäubenden Mischung. Zu allem Überfluss lief Ahi ihrem Vater an Heiligabend auf dem Campingplatz in die Arme und wurde prompt
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