Ruf der Sehnsucht - Historical Special Bd 33
„Wünscht Ihr vielleicht eine Begleitung?“
Sophie lehnte schüchtern ab, hoffte jedoch, dass sie mit ihrer etwas übereilten Reaktion keinen Argwohn erweckt hatte. „Es ist gewiss für alle im Schloss ein arbeitsreicher Tag.“
Der Stallbursche runzelte die Stirn. „Zu so später Stunde sollte eine Dame aber nicht allein unterwegs sein. Seid Ihr auch sicher, dass Ihr nicht allzu weit reiten wollt?“
„Doch, doch“, log Sophie, die abermals fürchtete, sich in ihrer Hast womöglich zu verraten. „Nur bis zum Fluss, hatte ich mir gedacht.“
Zu ihrer Erleichterung grinste der Stallbursche. „Ja, das ist schon ein mächtiger Strom, die Loire. Die fließt bis Nantes und dann noch weiter bis zum Meer.“ Er klang so stolz, als habe er das Flussbett selbst ausgehoben.
Sophies Herz tat einen Sprung. Nantes? Hatte Gérard nicht erwähnt, dass die Steine dem Vernehmen nach westlich dieser Stadt lägen? „Tatsächlich?“, fragte sie.
„Aber ja doch! Seid auf der Hut, denn es könnte sein, dass sie Hochwasser führt, auch jetzt noch, zum Ende des Lenz.“
Sophie ließ sich in den Sattel helfen, wenngleich sie überzeugt war, der Stallbursche müsse doch eigentlich das aufgeregte Klopfen ihres Herzens vernehmen. Denn einen kurzen Ausritt über die Wiesen, den hatte sie wahrlich nicht vor. Zwar wusste sie noch nicht, was sie nach ihrer Ankunft dort anstellen sollte, doch eines war ihr klar: Sie musste die aufrecht stehenden Steine aus ihrem Traum finden. Sollte der Fluss tatsächlich bis Nantes fließen, dann musste sie also nur seinem Lauf geradewegs bis dorthin folgen.
Dass Sophie nicht mehr da war, bemerkte Hugues nur wenige Augenblicke später. Doch jedes Mal, wenn er sich auf die Suche nach ihr machen wollte, gesellte sich jemand zu ihm, der etwas Wichtiges auf dem Herzen hatte. Die Dörfler warteten schon gespannt auf die Gerichtssitzung, die ursprünglich am folgenden Tag hätte stattfinden sollen. Der Dorfälteste ließ erst locker, nachdem er Hugues das Versprechen abgerungen hatte, dass eine Ersatzversammlung so schnell wie möglich anberaumt werden würde. Freunde und Verwandte mussten benachrichtigt und Vorbereitungen getroffen werden, zumindest für die bevorstehende Ankunft von Louise und ihrem Mann. Der Koch verlangte Anweisungen für die Speisen, die für die drei folgenden Trauertage gereicht werden sollten, wohingegen der Burgkaplan forderte, das Trauerhaus solle lieber zwei Tage fasten. Natürlich waren inzwischen auch die Vorräte an gutem Wein im Keller knapp. Außerdem musste eine Jagd in die Wege geleitet werden, damit wenigstens die notwendigen Vorräte für den Leichenschmaus herangeschafft und alle Trauergäste angemessen bewirtet werden konnten.
Und dann die Rechnungslage! Dass Jean seinerzeit diesbezüglich ein wahres Wort gesprochen hatte, war Hugues nur ein schwacher Trost. Die Kosten waren schwindelerregend angestiegen, die Einnahmen hingegen gesunken, die Bücher indes immerhin ordentlich geführt und alte Darlehen im Gegensatz zu Jeans Klagen inzwischen getilgt. Wieder einmal musste Hugues seinem verstorbenen Vater dankbar sein für dessen ausgeprägten Geschäftssinn. Am Abend, als er allein im Burgsaal saß, wurde ihm beim Anblick der krakeligen Handschrift des Alten erstmals der Verlust so richtig bewusst. In der Stille war es ihm unmöglich, den Gedanken zu verdrängen, er brauche bloß die Treppe hinaufzusteigen, und schon würde wieder das zänkische Gezeter seines Vaters durch die Gänge der Burg hallen.
Doch kein Laut drang aus der Kemenate, und auch der Rest des Schlosses lag in tiefem Schweigen.
Sinnend ließ Hugues den Blick durch die Halle wandern, wobei ihm allmählich klar wurde, welche Verantwortung seit diesem Tag auf seinen Schultern lastete. So lange hatte er sich darauf vorbereitet, und nun, da der Augenblick gekommen war, beschlich ihn auf einmal die Angst, er könne sich der Aufgabe nicht gewachsen zeigen.
Er schluckte seine Furcht hinunter, erhob sich umständlich und reckte sich müde, wobei ihm auffiel, wie sehr ihm die Schultern schmerzten. Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Sophie würde ihm ja zur Seite stehen. Sophie, die ihm solche Kraft schenkte und stets am besten wusste, wie man seine Befürchtungen zerstreuen konnte. Er lächelte, als ihm einfiel, dass er nun endlich um ihre Hand anhalten konnte. Ein Gutteil seiner Bürde fiel von ihm ab, als er zur Schwelle schlenderte und auf das im Mondschein liegende Anwesen
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