Ruf der Sehnsucht - Historical Special Bd 33
flüsterte der Knappe heiser. Hugues nickte verlegen und klammerte sich an die Hoffnung, der Junge werde diesmal die Mahlzeit bei sich behalten. Allerdings war ihm klar, dass er nun mit seinem Latein am Ende war. Unbeholfen nestelte er mit einem Linnentuch herum, wischte dem Jungen ein paar Suppenspritzer vom Kinn und wünschte sich weit, weit fort, bloß nicht ans Krankenlager.
So ähnlich fühlte er sich in jüngster Zeit, wenn er seinen hinfälligen Vater besuchte, obgleich der weiß Gott ein weniger umgänglicher Patient war und jeden, der sich in seine Nähe traute, übellaunig anbrüllte und anfauchte. Vielleicht wusste der Alte ebenfalls nicht, wie er mit körperlichem Verfall umgehen sollte, und allmählich wuchs Hugues’ Verständnis für die väterlichen Launen der letzten Jahre. Des Öfteren fragte er sich, ob er sich sonderlich anders verhalten würde, müsste er ständig das Bett hüten.
Missmutig verzog er das Gesicht und nahm sich eines vor: Sollte ihn ein ebensolcher Schicksalsschlag treffen, so würde er ein Kräuterweiblein rufen und sich etwas verabreichen lassen, das sein Leiden ein für alle Mal beendete. Bei dieser Überlegung fiel ihm der Hinweis seines Schwagers wieder ein. Jean zufolge rechnete Louise damit, dass es mit dem Alten langsam zu Ende gehe. In diesen Dingen verfügte seine Schwester über eine scharfe Beobachtungsgabe, wie Hugues sich erinnerte.
Dass ihn der Gedanke an den nahen Tod des Vaters nicht länger schreckte, lag vermutlich daran, dass der sich inzwischen schon fünf Jahre mit seiner Krankheit herumquälte. Da war es fast besser, ihn überhaupt nicht mehr zu sehen, statt miterleben zu müssen, was aus ihm geworden war. Beim letzten Besuch auf Pontesse wollte sein Vater unbedingt Hugues’ Schwert ausprobieren, um Verarbeitung und Güte zu prüfen. Hugues hatte ihm den Gefallen natürlich sofort getan, wusste er doch, wie sehr dem Kranken daran lag, noch einmal die Wucht der Waffe im Griff zu spüren.
Was letztendlich dabei herauskam, war Welten von dem entfernt, was Hugues sich erwartet hatte. Es brach ihm schier das Herz, mitansehen zu müssen, welch unendliche Mühe es den alten Mann kostete, die Klinge überhaupt aus der Scheide zu ziehen. Sein Vorbild, jener Hüne, der ihm beigebracht hatte, bereits als grüner Junge so zu brüllen, dass die Dachbalken bebten, war zu geschwächt, ein Breitschwert zu heben.
Als Hugues die Klinge dann wieder in die Scheide steckte, wich er bewusst dem Blick des Vaters aus, um sich seine Bestürzung und Niedergeschlagenheit nicht anmerken zu lassen. Zu sagen wusste er allerdings auch nichts. Der Alte stieß einen leisen Seufzer der Mutlosigkeit aus und brabbelte etwas Verworrenes in den Bart. Hugues hatte sich schleunigst verabschiedet und das elterliche Anwesen im folgenden Morgengrauen verlassen.
Als Luc nun seufzend die Augen schloss, musterte Hugues sein bleiches Gesicht eine Weile und befühlte dann zögernd seine Stirn, die so heiß war wie zuvor. Während er sich den Rest der Suppe einverleibte, betrachtete er nachdenklich seinen schlafenden Knappen. Wäre er selbst bloß für derartige Prüfungen besser vorbereitet!
Ohne die ihm sonst eigene Unbeschwertheit zog er dem Schlafenden die Decke unters Kinn. Es war seine eigene, die nach einem Gemisch aus Pferdeschweiß, Dung und Heu roch, was ihn an die im Laderaum untergebrachten Gäule erinnerte.
Höchste Zeit, die Tiere zu versorgen. Dass er regelrecht erleichtert darüber war, die Kabine mit gutem Gewissen verlassen zu dürfen, gefiel ihm ganz und gar nicht. Als Hugues gerade die Tür erreichte, schlingerte der Frachtkahn plötzlich, sodass er ängstlich über die Schulter blickte. Luc aber schlief friedlich weiter. Während Hugues in den engen Gang hinaustrat, überlegte er, dass man sich inzwischen wahrscheinlich der Flussmündung und der offenen See näherte. Da blieb nur zu hoffen, dass sich Lucs Übelkeit dadurch nicht noch verschlimmerte.
„Blinder Passagier!“
Bei dem gefährlich nahen Alarmruf schreckte Sophie ruckartig aus ihrem Dämmerschlaf. Ihr Herz krampfte sich ängstlich zusammen, als sie im Halbdunkel des Laderaums den Schiffsjungen bemerkte, der sie entgeistert anblickte. „Blinder Passagier!“, schrie er nochmals über die Schulter.
Vor Angst fast wie gelähmt rappelte Sophie sich hoch, doch ihre Beine, die nach drei Tagen jämmerlich verkrampfter Haltung in dem Versteck nahezu steif waren, versagten ihr den Dienst. Trotzdem versuchte sie, sich an
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