Ruf der Sehnsucht - Historical Special Bd 33
manchen brauchbaren Kniff gelernt, der ihr, wäre sie allein unter Frauen groß geworden, wohl versagt geblieben wäre. So wusste sie beispielsweise, dass sie sich in doppelt so große Gefahr begeben hätte, wäre sie in Frauenkleidern gereist, und das auch noch ohne Eskorte. Aus diesem Grund hatte sie sich vom jüngsten der vier Brüder ein abgelegtes Paar Beinlinge geborgt und das straff gebundene Haar unter einer Haube versteckt. Diese Verkleidung würde zwar keiner genauen Musterung standhalten, doch hatte Sophie ja die Absicht, sich möglichst versteckt zu halten.
Ferner hatte sie schon vor Langem von den Brüdern gelernt, wie man mit einem Messer umgeht. In der vergangenen Nacht hatte sie daher dem Jüngsten während des Schlafs den Dolch stibitzt, wohl wissend, dass sie ihn unter Umständen würde benutzen müssen. Und falls die Brüder es bemerkten, durften sie immerhin davon ausgehen, dass ihre Sophie eine Waffe dabeihatte, mit der sie sich notfalls verteidigen konnte. Das sorgte vielleicht dafür, dass sie sich keine allzu großen Sorgen um sie machen mussten.
Zum zweiten Mal schon an diesem Abend traten ihr brennend die Tränen in die Augen, doch Sophie kämpfte verbissen dagegen an und weigerte sich standhaft, darüber nachzugrübeln, wie ihre Familie wohl auf ihr Verschwinden reagieren mochte. Einen Hinweis auf ihre Flucht hatte sie nicht hinterlassen; wie hätte sie das auch anstellen sollen. Sie hoffte jedoch, man werde gleich merken, dass sie aus freiem Willen gegangen war, weil sie Kleidung, etwas Wegzehrung und das Messer mitgenommen hatte. Wie unsagbar schwer es ihr gefallen war, alle noch ein letztes Mal im Schlaf zu betrachten! Einer hatte sogar so wie immer mit offenem Mund geschnarcht, sodass sie beinahe wünschte, er möge aufwachen und sie entdecken.
Doch es hatte nicht sein sollen, und so war sie unbemerkt davongeschlichen, aus dem einzigen Elternhaus, das sie jemals gekannt. Im Schatten der Häuser war sie eilends hinunter zum Hafen gelaufen, zu der Stelle, wo die Weinfrachter beladen wurden.
Nun lugte sie verstohlen aus ihrem Versteck und duckte sich blitzschnell, als sie bemerkte, wie zwei Männer sich in der Nähe etwas zuriefen, die sich wohl auf den Heimweg machten. Noch ein Mal wagte sie einen Blick auf das Schiff, das sie sich bereits ausgesucht hatte für ihre Reise gen Norden.
Es war das größte im ganzen Hafen – zugegebenermaßen ein Umstand, der es für Sophie besonders reizvoll machte, ging sie doch davon aus, dass es auf einem großen Schiff auch mehr Verstecke gab. Zwar wusste sie nicht viel von der Seefahrt, stellte sich aber vor, dass ein so riesiger Segler wohl auch aufs Meer hinausfahren würde sowie danach an der Küste entlang bis London – also nicht bloß bis zur Mündung der Garonne.
Allerdings musste sie sich darauf verlassen, dass es irgendwo zwischen der Flussmündung und London noch einmal einen Hafen anlief. Denn die Stadt Vannes, zu der es Sophie ja zog, lag etwa auf halbem Weg zwischen Royan an der Garonne-Mündung und London – allerdings nicht an der Küste selbst.
Allmählich wurde es ruhiger, und so griff Sophie angespannt nach ihrem kleinen Bündel mit Proviant. Nach einem letzten Blick über den Kai verließ sie vorsichtig ihr Versteck und wagte sich hinaus in eine ungewisse Zukunft.
4. KAPITEL
Sehr zu Hugues’ Verdruss hielt Lucs Seekrankheit weiterhin an.
Nicht, dass Hugues sich zu fein gewesen wäre, die Pferde einmal selbst zu versorgen. Zudem brauchte er die Unterstützung des Knappen hier an Bord nicht unbedingt. Nein, das Dumme war nur, dass er nicht wusste, wie er die Rolle des Krankenpflegers spielen sollte. In dieser Hinsicht fühlte er sich vollkommen überfordert. Der Junge schien zwar heilfroh, dass sein Herr und Meister ihm beistand, doch Rittern lag es nun einmal nicht, einander zart den Schweiß von der Stirn zu wischen. Es wäre auch dummes Zeug gewesen, zu glauben, dass die Übelkeit sich durch solcherlei Zuwendung schneller gelegt hätte. Zum Glück brauchten die Gäule diese Fürsorge nicht. Bei Lucs Pflege kam Hugues sich jedenfalls ungewohnt linkisch vor.
Als er mit der Suppenschüssel die enge Kabine betrat, sah der Junge ihn so erwartungsvoll an, dass Hugues ein genervtes Seufzen unterdrückte und sich zu ihm auf die Kojenkante setzte. Luc lächelte kläglich, worauf Hugues ihm zähneknirschend aufhalf und ihm die Schüssel so hielt, dass er seinen Brotkanten in die Brühe tunken konnte.
„Schmeckt gut“,
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