Ruf der Sehnsucht - Historical Special Bd 33
dem Jungen vorbeizuwinden und zu entwischen, auch wenn sie gar nicht gewusst hätte, wohin. In diesem Augenblick sprang auch schon ein vierschrötiger Dickwanst die Stiege hinunter in den Laderaum und stürzte sich auf sie. Geduckt wich Sophie nach links aus, aber die Weinfässer, die dort aufgestapelt standen, versperrten ihr jeden Fluchtweg.
Laut fluchend bekam der Seemann sie beim Ellbogen zu fassen. Vergeblich zappelte und zerrte sie, um sich aus dem brutalen Griff zu befreien, und als sie sich zur Seite beugte, um ihrem Häscher in die Hand zu beißen, flog ihr im Handgemenge die Haube vom Kopf. Beim Anblick ihrer Haarpracht schreckte der Matrose bestürzt zurück und ließ ihren Arm los.
„Ein Weib!“, japste er fassungslos. Als Sophie überrascht den Kopf hob, weil sie plötzlich befreit war, sah sie, dass die beiden Besatzungsmitglieder sie mit einem Blick anstarrten, in dem das blanke Entsetzen lag.
„Das bringt Unglück“, flüsterte der Schiffsjunge.
Der Dicke nickte zustimmend. „Nur gut, dass wir das Frauenzimmer erwischt haben, ehe wir auf offener See sind“, fügte er düster hinzu, wobei er Sophie erneut beim Arm packte und zur Leiter stieß.
„Eine Frau!“, brüllte ein weiterer Seemann, der oben über der Leiter auftauchte und sich hastig bekreuzigte. „Von nun an wird’s uns bös ergehen, das sage ich euch.“
Was soll denn das bedeuten?, fragte sich Sophie. Sie hatte noch nie gehört, dass Seeleute bei weiblichen Passagieren auf ihren Schiffen derart aus der Fassung gerieten. Plötzlich bekam sie es mit der Angst zu tun. Was würden die Männer wohl mit ihr anstellen?
„Ich verlange, den Bootsmann zu sprechen“, sagte sie energisch, als sie das Oberdeck erreichte. „Wegen des Fahrgelds.“
Der Fettwanst hinter ihr ließ ein abfälliges Schnauben vernehmen. „Von einem Weibsbild nimmt der bestimmt kein Silber!“, versicherte er barsch.
Sophie konnte es nur recht sein, denn sie hatte nicht einen roten Heller dabei. „Dann setzt mich im nächsten Hafen an Land“, entgegnete sie entschieden, als hätte sie irgendetwas zu bestimmen.
Der Dicke ließ sich nicht darauf ein. „Bis La Rochelle legen wir nirgendwo an“, versetzte er, worauf Sophie eine Erwiderung schuldig blieb, denn sie wusste nicht einmal, wo La Rochelle lag. Als der Seemann ihre Unsicherheit bemerkte, schüttelte er wieder den Kopf. „So weit kannst du nicht mitfahren, denn das liegt am Meer“, brummte er, als erkläre das alles.
Angst stieg in Sophie auf. Falls man sie nicht an Land setzen konnte, sie aber auch nicht an Bord bleiben durfte – was sollte da aus ihr werden?
Der Seemann musterte sie eine Weile, zuckte dann mit den Schultern und schubste sie wieder vorwärts. „Bleibt nur zu hoffen, dass ein hübsches Frauenzimmer wie du schwimmen kann.“
Als ihr die Bedeutung seiner Worte aufging, wirbelte sie entsetzt zu dem Dickwanst herum. „Das dürft ihr nicht!“, fauchte sie ihn an.
„So sind die Sitten der Seefahrt“, zischte er mit furchterregend leiser Stimme. „Hättest dich eben vorher erkundigen müssen, was dir blüht, ehe du dir die Fahrt erschleichst.“ Nochmals versetzte er ihr einen kleinen Stoß und funkelte sie böse an. „Wird Zeit, dass der Bootsführer dich einmal kennenlernt.“
Sophie musste sich wohl oder übel geschlagen geben. Tränen hilfloser Wut standen in ihren Augen, während sie den Gang hinunterschritt, gefolgt von dem dickleibigen Seemann. Ob sie überhaupt schwimmen konnte, wusste sie nicht einmal, aber es würde sich ja wohl bald herausstellen.
In ihrer Niedergeschlagenheit sah sie den Mann, der vom entgegengesetzten Ende des dunklen Durchgangs auf sie zukam, erst im allerletzten Moment, als er unsanft mit ihr zusammenstieß. Erzürnt über diese Grobheit, auch wenn sie nur von einem Matrosen stammte, blitzte sie ihn an und sah, wie sich ein Ausdruck grenzenloser Verblüffung über sein Gesicht legte. Es war Hugues de Pontesse!
„Sophie!“, entfuhr es ihm verdattert. Ihm war schnell klar, dass es sich bei ihr wohl um den entdeckten blinden Passagier handeln musste.
Aber warum war sie ihrem Mann davongelaufen? Was hatte sie hier auf dem Schiff verloren? Flüchtig schoss ihm ihr Gerede von des Schicksals Mächten durch den Sinn, doch dann verdrängte er diesen Gedanken. Hatte sie wohl irgendetwas ausgeheckt, dass sie ihm folgte?
Allerdings sah man ihrer Miene an, dass sie ebenso überrascht war wie er. Dann plötzlich lächelte sie strahlend durch ihren
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