Ruf der Sehnsucht - Historical Special Bd 33
Strand etwas erspähte. Ihr Herz schlug schneller bei dem Gedanken, es könne womöglich ein Überlebender des Schiffbruches sein. Als sie eilig darauf zustrebte, stellte sie jedoch fest, dass dieses Etwas sich nicht bewegte. Eine Person war es folglich nicht, vielleicht aber Vorräte aus dem Lagerraum, womöglich etwas Ess- oder Trinkbares oder eine Decke, in die sie sich hüllen konnte, denn die wärmende Sonne sank unbarmherzig immer tiefer. Schon jetzt spürte sie die Kälte, die vom feuchten Sand ausging, und die empfindliche Rötung ihrer Haut, hervorgerufen von den brennenden Sonnenstrahlen, würde dafür sorgen, dass ihr die Nacht noch kühler vorkam, als sie in Wirklichkeit war.
Dass dieses Gebilde von dem verunglückten Schiff stammen musste, daran zweifelte sie nicht im Geringsten, denn es wirkte völlig durchnässt, als sei es wie Tang ans Land gespült worden, jedoch zu groß, als dass es ein Meereswesen hätte sein können. Ein klatschnasser, rundlicher Hügel war das, an dessen Seite etwas im orangefarbenen Licht der untergehenden Sonne funkelte. Als Sophie erkannte, was es war, hielt sie wie vom Donner gerührt inne.
Ein Hufeisen! Etwas anderes konnte es unmöglich sein. Mit klopfendem Herzen stapfte Sophie langsam darauf zu, umrundete den massigen, reglosen Haufen und hielt erstickt den Atem an: Vor ihr lag Hugues’ Hengst. Ertrunken.
Das edle Zaumzeug mitsamt Schabracke war fort, die sonst so schimmernd silbergraue Decke stumpf und salzverkrustet, die stets gepflegte Mähne nun ein verfilztes Knäuel aus Haar und grünlichem Tang. Aber kein Zweifel, es war Argent.
Bittere Galle stieg in Sophies Kehle auf, und ein neuer Sturzbach aus Tränen ergoss sich über ihre Wangen. Das tote Pferd führte ihr Hugues’ Schicksal einmal mehr deutlich vor Augen. Ohne zu wissen, was sie tat, wandte sie sich um und rannte blindlings den Strand hinunter, weg von dem leblosen Ross, fort von diesem so jähen, brutalen Ende all ihrer Träume.
Fünf Tage, die ihr wie ein einziger ineinander verschmolzener Zeitraum erschienen, war Sophie bereits marschiert, als wie durch ein Wunder die Stadt hoch über den Klippen auftauchte.
Die Blasen an Sophies Füßen waren aufgeplatzt, verschorft und aufs Neue aufgegangen, die Haare nach wie vor ein wirres, salzverfilztes Gestrüpp, die Fingernägel rissig und dreckig. Die sonnenverbrannte, gerötete Haut hatte sich abgeschält und dann eine noch dunklere Tönung angenommen als zuvor, und wenn Sophie einmal zu schlafen wagte, verfolgte das Bild des ertrunkenen Pferdes sie in ihren Träumen.
Zwar hatte sie am zweiten Tag ihres Marsches ein offenbar aus dem Wrack stammendes Bündel gefunden, doch war der Kanten salzigen Käses inzwischen aufgezehrt und an diesem Morgen auch der letzte Tropfen Wein aus dem Ziegenbalg gequetscht. Ihr Magen rumorte bereits dermaßen lange vor Hunger, dass sie sein Knurren kaum noch wahrnahm. Ihre Zunge war so trocken, dass sie fast gar nicht mehr wusste, wie sie sich vorher angefühlt hatte.
Und so kam es, dass Sophie geraume Zeit an diesem Morgen hinauf zu den Stadtmauern starrte, nicht ganz sicher, ob sie nun echt waren oder bloß eine Ausgeburt ihrer Fantasie. Als aber die Sonne durch die Wolkendecke brach und ihre Strahlen die hohen Zinnen beleuchteten, als dann die Stadt tatsächlich weiter dort oben auf dem Steilufer verharrte, beschloss Sophie, hinaufzuklettern und Hilfe zu suchen.
Was hatte sie denn schon zu verlieren?
Es war der Markt, der ihr zum Verhängnis werden sollte.
Sophie hatte die feste Absicht gehabt, um Hilfe zu bitten. Sie hatte auch nachgefragt, kaum dass sie die Stadt betreten hatte, und war auf ihre Fragen hin ans Kloster verwiesen worden, ohne zu ahnen, dass der Weg dorthin geradewegs über den Marktplatz führte. Es herrschte reges Treiben, und voller Bewunderung bestaunte Sophie die ersten paar Marktstände, an denen erlesene Lederwaren sowie feine Seiden- und Wollstoffe feilgeboten wurden.
Und plötzlich drang ihr köstlicher Bratenduft in die Nase.
Unvermittelt begann ihr Magen wieder laut zu knurren. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen, sodass sie schon fürchtete, der Speichel tropfe ihr von den Lippen wie einem verschmachtenden Hund der Geifer von den Lefzen. Wie nie zuvor machte sich die gähnende Leere in ihrem Bauch bemerkbar. Braten mit Zwiebeln roch sie, da gab es für sie keinen Zweifel, und ihre Eingeweide grollten bereits ungeduldig, ging es ihnen doch nicht schnell genug. Die Nase schnuppernd
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