Ruf der Sehnsucht
Sohnes.«
Jeanne lächelte ihn an – die Zeiten, da sie sich von Kritik einschüchtern ließ, waren vorbei. »Lebt er in Edinburgh?«
Er erwiderte ihr Lächeln, hielt es offenbar für einen Annäherungsversuch. »Weshalb dieses Interesse an Douglas MacRae?«
Es war das erste Mal seit damals, dass sie den Namen hörte, und sie musste alle Disziplin aufbieten, um ihr Lächeln beizubehalten. »Er erinnert mich an jemanden, den ich in Frankreich kannte«, antwortete sie.
»Ihr müsst mit diesem Teil Eures Leben abschließen, Jeanne. Es gibt in Frankreich nichts mehr, was Ihr wiedererkennen würdet.«
Das wusste Jeanne besser als er, aber sie lächelte tapfer weiter und nickte nur. Hartley wähnte sich als Autorität für alles und jedes, eine Selbstüberschätzung, die zuweilen enervierend, aber in erster Linie ein Zeichen von Schwäche war. Das hatten die Nonnen sie unbewusst gelehrt.
»Nun, um Eure Neugier zu befriedigen«, lenkte er ein, »ich mache Geschäfte mit ihm.«
Sie bedankte sich für sein Entgegenkommen, indem sie den Kopf neigte, worauf Hartley lächelte.
»Er ist ein sehr vermögender junger Mann.«
»Ach ja?«
Sein Vermögen kümmerte sie nicht. Sie wollte wissen, ob er verheiratet war, ob die Jahre ihn verändert hatten – persönliche Fragen, die sie nicht stellen durfte.
Seltsam, dachte sie, dass Hartley, der die Macht hatte, sie durch eine Kündigung ins Elend zu stürzen, ihr keine Angst machte, während der Mann, den sie vergöttert hatte, sie zu Wachsamkeit veranlasste.
Douglas zu lieben war die rebellischste Tat in ihrem jungen Leben gewesen – und ein folgenschwerer Wendepunkt.
»Wir sprachen gestern Abend über die Revolution«, sagte Hartley in ihre Gedanken hinein.
»Wirklich?«
»Eine schreckliche Situation. Ich frage mich, warum Ihr Frankreich verlassen habt, Jeanne. Seid Ihr von Geblüt aus dem ältesten Adel?«
Gespannt erwarteten Vater und Sohn ihre Antwort.
»Ich habe die letzten neun Jahre in einem Kloster verbracht.« Mehr würde sie nicht preisgeben.
Hartley lächelte anzüglich. »Vermisst Ihr das religiöse Leben?«
Sie schüttelte den Kopf. Es gab nicht viel zu vermissen daran. Aber immerhin hatte sie dort eine neue Welt kennengelernt – eine Welt der inneren Einkehr und Zeitlosigkeit. Wenn sie, von einer Nonne bewacht, im Klostergarten auf der Erde kniend Unkraut jätete – eine Strafe, die ihr zum Vergnügen geworden war –, schloss sie Freundschaften mit Marienkäfern und Raupen. Manchmal, wenn sie für kurze Zeit allein gelassen wurde, ließ sie einen der Käfer bis zu ihrer Fingerspitze krabbeln, hob ihn hoch und sprach mit ihrem winzigen Gesellschafter.
»Was hast du denn heute für Pläne?«, fragte sie zum Beispiel einen blassgrünen Tausendfüßler. »Willst du zu den Karotten? Ich rate dir, nicht zu viel Schaden anzurichten, sonst bekommen wir beide Ärger.« Dann setzte sie ihn hinter einen Farnwedel und hoffte, dass das Schicksal ihm ein längeres Leben gewähren würde, als es Tausendfüßlern im Allgemeinen beschieden war.
Sie lernte, sich in Gelassenheit zu üben. Anstatt sich in den einsamen Stunden auf Gott oder ihre Sünden zu konzentrieren, lauschte sie ihrer Atmung. Sie spürte das Blut durch ihre Adern rauschen und versuchte, seinen Fluss zu bremsen, mäßigte ihre Herzschläge, bis sie einen seltsamen Ruhezustand erlangte.
Jetzt kamen ihr diese Übungen zugute. Trotz des Tumults in ihrem Innern wirkte sie äußerlich ruhig.
»Wie sind deine Pläne für den heutigen Vormittag, Davis?«, wandte Hartley sich wieder an seinen Sohn.
Nach einem kurzen Blick zu Jeanne und ihrem zustimmenden Nicken antwortete der Junge: »Zuerst werden wir Mama besuchen, und dann muss ich etwas über die Römer lernen.«
»Ein aufregender Vormittag.« Hartley lächelte ihn an und richtete dann das Wort an Jeanne. »Könntet Ihr nach dem Mittagessen vielleicht ein wenig Zeit für ein Gespräch erübrigen? Gegen drei Uhr?«
Jeanne hatte eine sehr genaue Vorstellung vom Thema dieses Gesprächs. Ihr Dienstherr hatte sie, während er sein Brot mit Butter bestrich und auch während er seine Hafergrütze aß, mit den Augen verschlungen.
Nun gut. Sie hatte sich ja ohnehin vorgenommen, Robert Hartley die Stirn zu bieten.
»Ich hätte Euch gerne wegen Davis’ Lesestoff gesprochen«, setzte Hartley zähnefletschend hinzu. »Mein Sohn muss erfahren, was in der Welt vor sich geht.«
Es wäre dem Kind gegenüber freundlicher, ihm das noch eine Weile
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