Ruf der Sehnsucht
Stimmchen. Jeanne drückte seine kleine Hand. Nach einem letzten Blick zu ihr, als wollte er Mut daraus schöpfen, ließ er ihre Hand los und trat ans Bett, zog den Vorhang beiseite und fragte schüchtern in die Dunkelheit: »Geht es dir heute Morgen besser?«
Die Stimme, die ihm antwortete, klang überraschend kräftig. »Ja. Ich habe sogar gefrühstückt.«
»Hast du auch Toast und Marmelade gegessen wie ich?«, fragte der Junge lebhafter. »Für mich hat die Köchin die Rinde abgeschnitten.«
»Wirklich?« Althea setzte sich auf und spähte zwischen den Bettvorhängen heraus. Wie jedes Mal war Jeanne auch heute wieder überwältigt von der Schönheit der Frau. Althea war hellblond und von einer Zartheit, die zu einem Teil von ihrer Jugend herrührte und zum anderen von ihren drei Schwangerschaften in den letzten drei Jahren.
»Macht deine Gouvernante heute einen Spaziergang mit dir, Schätzchen?«, fragte sie ihren Sohn und streifte Jeanne mit einem ratlosen Blick.
Obwohl Mrs. Hartley mit ihrer Tante bekannt gewesen war, konnte sie sich nicht an Jeannes Nachnamen erinnern, was diese jedoch nicht im Mindesten störte. Je mehr man über sie wüsste, umso verwundbarer würde sie. Also kultivierte sie eine Unnahbarkeit, mit der sie das Personal auf Abstand hielt. Ihre Position kam ihr sehr gelegen – als Gouvernante gehörte sie weder zu den Dienstboten noch zur Familie.
»Wenn, dann erst nach dem Unterricht, Mama.«
Jeanne legte die Hand auf den Kopf des Jungen. »Verabschiede dich von deiner Mutter, Davis«, sagte sie. »Vielleicht machen wir heute Nachmittag einen Spaziergang im Garten.«
Wo deine Mutter dich sehen kann und sich vielleicht in die Sonne herauslocken lässt.
Der Gedanke blieb unausgesprochen – Gouvernanten agierten nicht als Beraterinnen oder Gesellschafterinnen. Aber sie suchte und fand Barbaras Blick, und die Frau nickte.
»Das wäre doch schön, oder?« Althea ließ sich in die Kissen zurücksinken. »Könnte ich Euch vielleicht überreden, ein paar Erledigungen für mich zu übernehmen?« Sie wandte sich ihrer Gesellschafterin zu und lächelte. »Ich vermisse Barbara immer so, wenn sie fort ist.«
»Natürlich, Madam«, erwiderte Jeanne mit einem kleinen Knicks. Was für eine Ironie des Schicksals. Früher hatte sie rangmäßig über ihrem jetzigen Dienstherrn gestanden, mit dem König diniert und in den Gärten von Versailles gespielt. Diese Tage waren vergangen, als hätte es sie nie gegeben.
»Barbara wird Euch erklären, was zu besorgen ist«, sagte Althea und schloss erschöpft die Augen.
Jeanne nahm Davis bei der Hand und führte ihn hinaus. Sie hoffte, dass seine Mutter sich bald erholen würde – wenn nicht um ihretwillen, so zumindest um ihres Sohnes willen.
Douglas verließ das Haus, um wegzufahren, blieb jedoch abrupt stehen, um den Anblick zu genießen. Der Platz vor ihm schwelgte im Morgenlicht regelrecht in einer Fülle scharlachroter und gelber Blüten. Noch war die Luft frisch, doch der bereits von der Sonne erhellte, wolkenlose Himmel versprach frühsommerliche Wärme.
Obwohl stets eine erregende Herausforderung, verblasste die Arbeit gelegentlich im Vergleich mit einem schönen Tag.
Der Winter in Edinburgh war scheußlich gewesen, und in den vergangenen zwei Monaten hatte es so viel geregnet, dass die Menschen den Sommer inständig herbeisehnten. Heute schienen ihre Gebete erhört worden zu sein.
Bald könnte die Arbeit an Margarets Park beginnen. Douglas hatte kürzlich das Nachbargrundstück erstanden, vor einer Woche die Pläne fertiggestellt und sie dem Sohn des Mannes übergeben, der auf Gilmuir wahre Wunder vollbracht hatte. Ephraim hatte das Castle mit Hecken umgeben, die Kanten des Stammsitzes der MacRaes abgemildert und dort, wo das englische Fort gestanden hatte, einen Lustgarten angelegt. Mit etwas Glück würde sein Sohn Malcolm auf dem terrassierten Hügel in Edinburgh eine ähnliche Meisterleistung vollbringen.
Douglas schaute zur Burg hinauf, die auf einem Felsen thronte. Selbst wenn der alte Königssitz wie jetzt in der Sonne lag, strahlte er etwas Finsteres aus. Auf dem Platz hier unten herrschte zumeist paradiesische Ruhe, nur gelegentlich von einer Kutsche gestört, aber eine Straße weiter würde bald geschäftiges Treiben einsetzen. Er hatte sich inzwischen an die wechselnden Gerüche Edinburghs und die verschiedenen Atmosphären der Stadt gewöhnt.
Douglas war kein Gutsherr und Konstrukteur wie Alisdair, kein Gutsherr und
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