Ruf der Sehnsucht
das, was danach geschah.
Wie jeden Tag seitdem suchte das Bild sie heim, das Bild von dem kleinen Grab inmitten hoher Bäume, deren Aufgabe zu sein schien, das Sonnenlicht fernzuhalten. In ihrer Erinnerung sang kein Vogel, rührte sich kein Lüftchen. Alles, woran sie sich erinnerte, war dieses Grab und der salzige Geschmack ihrer Tränen.
Bis gestern Abend, bis zu dem Wiedersehen mit Douglas, hatte sie sich seitdem nicht wirklich lebendig gefühlt. Was sie jetzt empfand, war schmerzhaft und beängstigend.
Wie sollte sie es ertragen?
Kapitel 5
E in leises Klopfen kündigte Davis an. Jeanne zwang sich zu einem Lächeln und öffnete die Tür. Ihr sonst so blasser Schützling stand mit einem vor Aufregung geröteten Gesicht vor ihr.
»Papa wird mit uns frühstücken, Miss! Seid Ihr fertig?«
Als sie die Tür weiter öffnete, sah sie Robert Hartley draußen stehen. Ihr Dienstherr lächelte sie liebenswürdig an, aber es wirkte eher wie ein Zähnefletschen.
Sie trat auf den Flur hinaus, wobei sie sorgfältig darauf achtete, Hartley nicht zu streifen. Die Situation musste dringend geklärt werden.
»Ihr seht sehr gut aus heute Morgen, Jeanne«, sagte er.
»Danke, Sir.« Die Pose der untertänigen Bediensteten fiel ihr nicht schwer. Das Kloster Sacré-Cœur hatte sie auf ein Leben in Knechtschaft vorbereitet. Sie begehrte nicht mehr dagegen auf, einem Menschen oder einer Institution Gehorsam zu leisten, denn sie hatte entdeckt, dass die Freiheit des Geistes viel wichtiger war als die des Körpers.
Sie gingen die Treppe hinunter und ins Kleine Speisezimmer, wo der Tisch fürs Frühstück gedeckt war.
»Ihr seid nicht mehr so dünn wie bei Eurer Ankunft hier«, bemerkte Hartley, als ein Lakai ihr den Stuhl zurechtrückte.
Sie antwortete mit einem höflichen Lächeln und dachte an die beschwerliche, mehrere hundert Meilen weite Reise von Vallans nach Calais. An manchen Tagen hatte sie nichts in den Magen bekommen, doch sie hatte sich von den Entbehrungen abgelenkt, indem sie sich auf ihr Ziel konzentrierte – Frankreich zu verlassen.
Seltsamerweise fühlte sie sich nicht mehr als Französin. Stattdessen fühlte sie sich heimatlos, keiner anderen Kultur verbunden als der des Landes, in dem sie im Moment lebte.
Die Schotten schienen Fatalisten zu sein, waren aber gleichzeitig entschlossen, ihr Leben bis zum jeweils nächsten Missgeschick so angenehm wie möglich zu gestalten. Keine schlechte Philosophie.
Auch Davis setzte sich an den Tisch. Als er die Serviette auf den Schoß legte, lächelte Jeanne ihn lobend an und hoffte, Hartley würde das gute Benehmen seines Sohnes ebenfalls bemerken.
Der Kleine erinnerte Jeanne in vielen Dingen an sie selbst. Auch sie hatte ihren Vater verehrt und sein Lob ersehnt. Doch nichts, was sie tat, war gut genug. Sie hatte hundert Gedichte aufgesagt, ein Dutzend Reden auswendig gelernt, die Schriften des Comte studiert und alles, dessen sie habhaft werden konnte, über den Namen du Marchand gelernt, nur um ihrem Vater zu gefallen.
Und nun schaute sie Robert Hartley an und fragte sich, ob er wohl genauso grausam wäre wie der Comte.
Das Mädchen, das servierte, kam frisch vom Lande und war ein wenig ungeschickt, noch nicht an die neuen Pflichten und das Leben in einem Stadthaus wie dem der Hartleys gewöhnt.
Das ganze Haus war mit Nippfiguren und Vasen vollgestellt, als wolle Mrs. Hartley den Reichtum ihres Mannes in Form von Porzellan demonstrieren. Sogar hier im Kleinen Speisezimmer wimmelte es von Schäferinnen, neogriechischen und chinesischen Vasen.
Kunst war billig in Schottland – und wahrscheinlich auch in England. Die französischen Emigranten, die zu Hunderten über den Kanal flohen, finanzierten sich ihr neues Leben mit ihren Kunstgegenständen.
Jeanne hatte aus ihrer Vergangenheit nichts retten können, was ihr das ermöglicht hätte.
Davis war sichtlich glücklich über die Anwesenheit seines Vaters, der mehrmals das Wort an ihn richtete, wenn es dabei auch nur ums Lernen ging.
Die Sonne schien durchs Fenster herein, warf ihr Licht auf die dunklen Möbel, milderte die ansonsten pompöse Schwere. Mrs. Hartley – oder vielleicht ihr Ehemann – bevorzugte gedämpfte Farben, Töne, die im Kerzenschein behaglich wirkten, bei Tageslicht jedoch düster.
»Ich habe Euren Gast von gestern Abend noch nie hier gesehen«, wagte Jeanne einen Vorstoß.
Hartley sah sie scharf an. »Das liegt daran, dass meine Gäste
mich
besuchen und nicht die Gouvernante meines
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