Ruf der Sehnsucht
Sicherheit jetzt gefährdet ist«, beendete der Kapitän den Satz für ihn. »Und was ist, wenn die Frau die Stadt verlassen will – soll mein Mann sie dann aufhalten?«
»Nein – ich will es nur wissen.«
Douglas hatte noch keinen exakten Plan, was Jeanne anging, aber er wusste immerhin, dass er nicht wollte, dass sie Edinburgh verließ.
Er stand auf, nahm Manning das Kettchen aus der Hand und legte es wieder in den Schrank.
Margaret liebte die Erinnerungsstücke aus ihrem frühen Leben und wollte eine Geschichte zu jedem Stückhören, das er im Lauf der Zeit gesammelt hatte. In den letzten paar Jahren hatte sie selbst einiges dazu beigesteuert. Auf dem untersten Bord lagen Dinge, die sie auf Gilmuir entdeckt hatte oder für die sie ihrer Meinung nach inzwischen zu alt war. Ein Beispiel dafür war die winzige Puppe. Das bemalte Gesicht war verblasst, die Beine und Arme hatten sich gelockert und müssten neu gestopft werden, aber Margaret brachte es nicht über sich, die Puppe wegzuwerfen.
Manchmal holte sie sie heraus und bat ihren Vater, ihr zu erzählen, wie er die Puppe damals gekauft hatte. Er hatte sich schon eine Menge Märchen für seine Tochter ausgedacht, darunter auch das über ihre Mutter. Margaret würde nie erfahren, dass die Frau, die sie hätte lieben sollen wie keine andere, sie einfach weggeworfen hatte.
Diese Puppe wurde liebevoller behandelt, als es Margaret vergönnt gewesen war.
Seine Tochter würde auch nie erfahren, wie töricht ihr Vater war, dass er nicht aufhören konnte, an die Frau zu denken, die er hasste.
Kapitel 6
W enn sie als Kind ihre Mutter besuchen wollte, hatte Jeanne oft zur Antwort bekommen, Helen fühle sich nicht kräftig genug für einen Besuch. »Morgen geht es deiner Mutter besser. Morgen kann sie vielleicht sogar in der Sonne sitzen. Morgen wird sie mit dir frühstücken, Kleines. Wird das nicht schön?«
Aber dieses »Morgen« trat nie ein.
Eines Tages hingen schwarze Bänder an der Tür, und die Dienstboten trugen schwarze Armbinden. Jeanne und ihr Vater folgten dem Priester in die Kapelle und sahen schweigend zu, wie die Gittertür zur Krypta aufgesperrt wurde. In einem prachtvoll geschnitzten Mahagonisarg lag Jeannes Mutter, aber Jeanne durfte nicht weinen.
Laut der Hausdame und dem Comte durften an diesem traurigsten aller Tage keine Tränen vergossen werden. Stattdessen musste sie kerzengerade und mit erhobenem Kopf dastehen und stolz darauf sein, dass sie eine du Marchand war. Am Abend weinte sie sich in den Schlaf, und am Morgen kühlte sie ihre Augen mit kaltem Wasser, damit ihre Zofe sie nicht bei Justine anschwärzte.
Vielleicht war Jeanne dieser Kindheitserinnerungen wegen so gewissenhaft, was Davis’ morgendliche Besuche bei seiner Mutter betraf. Nach dem Frühstück erhob Jeanne sich, dankte Hartley und streckte ihrem Schützling die Hand hin. »Komm, Davis. Wir müssen vor dem Unterricht deine Mutter besuchen.«
Der Junge nickte. Er war ein artiges Kind; mit seinen braunen Augen und dem braunen Haar ebenso unauffällig wie in seinem Benehmen, lernte weder schnell noch zu langsam. Er würde sein Leben mit dem Etikett »Durchschnitt« verbringen, aber das war vielleicht angenehmer, als starrsinnig, ungebärdig oder bösartig genannt zu werden.
Davis erinnerte Jeanne an sie selbst als Kind. Nicht der Erscheinung oder dem Wesen nach, aber in seiner Einsamkeit.
Vor der Tür zum Zimmer der Mutter im ersten Stock nickte Jeanne dem Jungen ermutigend zu, und er klopfte zaghaft an. Barbara, Mrs. Hartleys Gesellschafterin und Pflegerin, öffnete.
»Fühlt sich Mrs. Hartley kräftig genug für einen Besuch ihres Sohnes?«, fragte Jeanne.
Barbara nickte. »Die Mistress hat gut geschlafen.«
Jeanne und Davis traten ein. Es dauerte einen Moment, bis Jeannes Augen sich auf das Dämmerlicht im Raum eingestellt hatten. Mrs. Hartley hatte sich noch nicht von der Geburt ihres jüngsten Kindes vor einem Monat erholt, einem weiteren Sohn. Er gedieh prächtig, wurde von einer Amme genährt und einem Kindermädchen betreut. Ob Mrs. Hartley den Säugling je besuchte, wusste Jeanne nicht.
Sie schob Davis vor sich her zum Bett, wobei sie ihm sein Zögern nicht verdenken konnte. Das Zimmer war mit der Überdecke und den Vorhängen aus Brokat und den flämischen Gemälden an den Wänden erdrückend in seiner Pracht. Gedämpftes Burgunderrot, Smaragdgrün, Gold und Saphirblau überforderten die Sinne.
»Guten Morgen, Mama«, sagte Davis mit dünnem
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