Ruf Der Tiefe
hatte keinen Sinn, Dinge wie »Ich vermisse dich« zu sagen, damit konnte Tim nichts anfangen. Er war ein Nomade und selten für längere Zeit am selben Ort. Nur die Frage »Wann bist du mal wieder in der Gegend?« war erlaubt.
»Wenn ich so höre, was du erzählst, dann würde ich sagen – sehr bald«, erwiderte Tim und schielte zur Seite, anscheinend hatte er die Mails schon geöffnet. »Wir sollten das alles schleunigst klären. Am besten, wir verlegen eins unserer Forschungsschiffe in eure Nähe. Die Thetys ist gerade im Pazifik, nicht weit von euch entfernt. Ich glaube, sie könnte sogar morgen schon bei euch sein. Und ich selber nehme den nächsten Flug nach Honolulu. Muss nur noch packen. Okay?«
»Cool«, sagte Leon erfreut und legte seine Handfläche auf den Bildschirm. Tim tat in Kalifornien das Gleiche, und einen Moment sah es fast so aus, als berührten sich ihre Hände. Ihr altes Ritual. Doch diesmal war Leon abgelenkt. Konnte das sein – zitterte Tims Hand? Nein, das war bestimmt nur Bildschirmflimmern; es gab häufig Ärger mit dem Glasfaserkabel, das Benthos II und die Oberfläche verband.
Vielleicht trinkt Tim mal wieder zu viel , dachte Leon besorgt. Als Leon etwa zehn gewesen war, hatte sein Adoptivvater sich an einem ganz normalen Abend drei bis vier Whiskys eingeschenkt. Doch wirklich betrunken schien Tim selten zu sein und irgendwann hatte er den Whisky wieder aufgegeben. Von einem Tag auf den anderen.
Als Leon in die Messe zurückkehrte, war es Essenszeit, und die anderen standen schon in der Schlange vor der Küchentheke, um sich ihren Lunch abzuholen. Leon reihte sich ein, er hatte plötzlich rasenden Hunger.
Wie immer teilte Samuel, ein kräftiger Hawaiianer, mit unbewegtem Gesicht das Essen aus. Billie und Julian hatten im Laufe der Jahre schon alles versucht, um Sam ein Lächeln zu entlocken – vergeblich. Vielleicht hasste er seinen Job. Doch einige Indizien sprachen dagegen. Patrick hatte einmal einen Blick in ein abgegriffenes Album werfen dürfen, in dem Sam Fotos aller U-Boote verwahrte, auf denen er während seiner Zeit bei der Navy gefahren war – und Benthos II nahm in diesem Album einen Ehrenplatz ein. Auch wenn die Station nicht im Dienst des Militärs, sondern eines Konzerns stand und einem U-Boot in etwa so ähnlich sah wie ein Seestern einer Makrele.
Selbst der Plan mit der Postkarte hatte nicht geklappt. Soweit auf der Station bekannt, war Sams einziges Hobby seine Postkartensammlung. Alle paar Tage traf per Tauchboot wieder eine aus einem entlegenen Winkel der Welt ein und wurde von Sam sorgfältig an einer Wand der Küche befestigt, die schon über und über gepflastert war mit Ansichten aus aller Welt. Tom – der aus Großbritannien kam – hatte seine Eltern mal gebeten, Sam eine Postkarte aus England zu schicken. Das hatte ihm ein Danke eingebracht, ein ziemlich warmes sogar, aber mehr auch nicht.
Jetzt sprach das fremde Mädchen Sam lächelnd an. Ihr Gegenüber runzelte die Stirn und schickte einen düsteren Blick zurück. Leon spitzte die Ohren.
»Sam? Ich habe mal gehört, dass Samuel in Hawaiianisch Kamuela heißt«, sagte das Mädchen. »Soll ich Sie nicht lieber Kamuela nennen?«
Ungläubig sah Leon, wie Sams Mundwinkel langsam, aber unaufhaltsam nach oben strebten. Diese Fremde hatte es tatsächlich geschafft! Und auch ihrer Mutter schien es leichtzufallen, einen guten Draht zum männlichen Mädchen-für-alles von Benthos II zu finden. Über Sesamöl und die richtige Verwendung der Taro-Wurzel fachsimpelnd verschwanden Sam und die Besucherin in der Küche. Verdutzt blickte Leon hinter ihnen her und vergaß beinahe den Teller in seiner Hand, auf dem sich ein dampfendes Fischfilet in Kokos- und Algensoße befand.
»Mann, auf die Idee hätten wir auch kommen können.« Tom verzog ärgerlich den Mund. »Wahrscheinlich ist er von seinem hawaiianischen Opa immer so genannt worden. Und jetzt ist ihm das Herz aufgegangen, und wenn Carima will, kriegt sie vielleicht sogar Schokolade von ihm.«
»Sei nicht dämlich – sie lebt oben und kann sich jederzeit alle Schokolade kaufen, die sie will. Das ist nichts Besonderes für sie.« Billie seufzte. »Aber es stimmt, Sam hat welche. Vollmilch. Mit Macadamia-Nüssen. Neulich habe ich ihm welche geklaut und wäre beinahe erwischt worden. Auf der Flucht musste ich die Dose leider unter deiner Koje verstecken, Leon.«
Leon verzog das Gesicht und nahm einen Schluck Algensaft mit Ananasgeschmack. So war das also
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