Ruf Der Tiefe
aufschauen.« Leon erinnerte sich an etwas, das ihm Julian erzählt hatte und das irgendwie in seinem Gedächtnis hängen geblieben war. »Wieso lebst du nicht bei deiner Mutter?«
»Sie wollte es nicht. Aber ich würde es sowieso nicht aushalten, sie treibt mich in den Wahnsinn. Dafür ist mein Vater echt okay. Er war früher Tornado-Pilot bei der Bundeswehr, und als er zu alt dafür wurde, hat er mit Immobilien angefangen. Es hat geklappt. Alles, was er macht, macht er gut.« Stolz hatte sich in ihre Stimme geschlichen.
Leon konnte sich ihren Vater sofort vorstellen – Menschen wie ihn kannte er einige. »Ist das nicht anstrengend? Weil er erwartet, dass du auch so bist wie er selbst?«
»Ja. Schon. So habe ich es noch gar nicht gesehen, aber es stimmt.« Sie seufzte. »Gute Noten sind ihm wichtig, und auch bei den Sachen, die ich eigentlich zum Spaß mache, soll ich mein Bestes geben, Durchhänger sind nicht erlaubt. Aber woher weißt du das?«
»Hier auf der Station ist es auch so. ›Wenn du was machst, dann mach’s richtig.‹ Einer von Ellards Sprüchen.«
»Vielleicht würde es Papa glücklich machen, wenn ich perfekt wäre. Aber ich schaffe es einfach nicht. Und manchmal kommt mir schon der Versuch sinnlos vor. Was ist mir dir, versuchst du es noch?«
Wie gut es sich anfühlte, in dieser grün schimmernden Dunkelheit mit Carima zu reden. Es war, als seien die Gesetze der Welt ein paar kostbare Minuten lang aufgehoben, als gebe es keine Mauer zwischen ihnen, die sie trennte.
Leon ließ seinen Kopf gegen die Wand zurücksinken. »Ja. Aber wohl nur, weil es mir so leichtfällt. Ich glaube, das macht Ellard ein bisschen Angst. Immer wieder setzt er mir Grenzen, und das regt mich auf, aber wahrscheinlich hat er recht.« Er schwieg einen Moment, dachte nach über das, was Carima ihm erzählt hatte. »Du lächelst so viel. Man könnte meinen, es geht dir gut – aber das stimmt nicht.«
»Nein. Aber das ist ganz allein meine Sache.« Einen Moment lang klang ihre Stimme schroff, und Leon fürchtete, dass sie jetzt aufstehen und gehen würde. Doch sie tat es nicht und einen Moment später fügte sie leise hinzu: »Bei dir ist es doch genauso. An dich kommt keiner ran, oder? Nur lächelst du nicht. Du machst dicht. Sagst einfach nichts mehr.«
»Ja. Ich kann manchmal nicht anders.« Einen Moment lang kehrte in ihm die hilflose Bitterkeit über sich selbst zurück, doch das Gefühl wich schnell. Er hatte sich getäuscht – Carima verurteilte ihn nicht. Und diesmal würde er nicht »dichtmachen«, wenn er es irgendwie verhindern konnte.
»Das mit dem Lächeln wirkt meistens.« Ihre Stimme klang sehr verletzlich, und Leon ahnte, dass sie all das noch nicht vielen Menschen erzählt hatte. »Einmal hat mich in der Schule ein Mädchen eine Schleimerin genannt. Aber ich habe mir nichts anmerken lassen. Gar nichts. Und das war … wie ein magischer Panzer. Sie dachte, dass sie mir nichts anhaben kann, und dadurch war es nicht ganz so schlimm.«
»In Wirklichkeit war es aber schlimm, oder?«
»Natürlich. Ich fühlte mich wie ein Wurm, auf den gleich alle drauftreten.« Sie zögerte lange. »Und ich weiß immer noch nicht, ob etwas Wahres dran ist. Wahrscheinlich schon, sonst hätte es nicht so wehgetan. Bin ich eine Schleimerin?«
»Nein. Aber es ist vielleicht so, dass du auf sehr nette Art immer das zu bekommen versuchst, was du haben willst.« Leon fragte sich, wie Carima darauf reagieren würde, dass er so ehrlich zu ihr war. Doch hier in der Dunkelheit hatte nichts anderes Platz als die Wahrheit.
»Ja.« Auf einmal klang sie sehr müde. »Es ist schwer, damit aufzuhören. Meistens funktioniert es ja.«
»Vielleicht brauchst du es gar nicht, das Lächeln.« Es gab so vieles, was Leon durch den Kopf ging, mehr, als er jemals aussprechen konnte. Aber er musste es versuchen. »Du hast nicht versucht, mich zu irgendetwas zu überreden. Ich bin freiwillig hier.«
Bisher hatte sie ihn nicht angesehen. Doch jetzt strich sich Carima das Haar aus der Stirn und wandte ihm das Gesicht zu, sodass sie sich im Halbdunkel in die Augen blickten. Leon erkannte, dass ihr wieder Tränen über die Wangen liefen. Am liebsten hätte er einfach die Hand gehoben und diese Tränen weggewischt.
»Gibt es eigentlich etwas, wovor du Angst hast?« Jetzt flüsterte sie.
Natürlich, es gab Geschöpfe in der Tiefsee, denen er auf keinen Fall begegnen wollte. Auch ein Leck in der Station oder eine Fehlfunktion seiner OxySkin waren
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