Ruf Der Tiefe
Doktorfische versuchten ihre Auserwählten mit einem Balztanz zu betören, ein Papageienfisch schoss umher und knabberte mit seinem harten Schnabel Korallen an, ein Drückerfisch kontrollierte, ob auch niemand sein Revier missachtete, ein Igelfisch blies sich empört zu einer stacheligen Kugel auf, weil jemand gewagt hatte, ihn zu stören … und jetzt? Alle tot, nur noch stinkender Müll, der entsorgt werden musste.
»Soweit wir wissen, sieht es überall um Maui und Big Island herum so aus«, sagte Matti Kovaleinen grimmig. Der drahtige grauhaarige Kommandant hatte sich halb auf eine Konsole gesetzt. »Fast alle Strände sind gesperrt. Dort oben herrscht Ausnahmezustand.«
»Greta, wissen die Kollegen an Land schon, was dafür verantwortlich ist?«, fragte Ellard.
Die angesprochene Wissenschaftlerin antwortete, eine schmale Frau mit langer Nase und ironisch blickenden braunen Augen, an deren Overall der Name Halvorsen eingestickt war. »Den ersten Ergebnissen nach haben wir’s mit Zooplankton aus der Tiefsee zu tun – winzige Tierchen, viele von ihnen sieht man nur unter dem Mikroskop«, ergänzte sie mit Blick auf Carima und ihre Mutter. »Natürlich sind die jetzt alle komplett abgestorben. An der Oberfläche haben sie nichts zu suchen, sie können dort nicht auf Dauer überleben. Vorher haben sie noch mal geleuchtet, ein letztes Mal, das muss es gewesen sein, was gestern Abend los war. Wie ihr seht, ist die ganze Suppe den Fischen nicht gut bekommen.«
Wie seltsam das ist , ging es Carima durch den Kopf. Hier unten hocken wir auf dem Grund des Meeres, sozusagen mittendrin, und kriegen nichts von dem mit, was oben geschieht. Und doch – anscheinend lag der Schlüssel zu dem, was mit dem Meer passierte, hier unten. Dort, wo Leon beinahe in der ewigen Dunkelheit erstickt wäre. Im Nachhinein bekam Carima bei diesem Gedanken eine Gänsehaut. Denn jetzt war es nicht mehr irgendjemand, der beinahe gestorben wäre – sondern dieser Junge, der sich gestern einfach geweigert hatte, sie allein zu lassen, als alles um sie herum zusammenstürzte.
»Habt ihr die Daten der Gleiter schon?«, brummte Patrick. »Bevor ich nicht weiß, was los ist, fahre ich mit der Marlin nicht ab. Hätte gerade noch gefehlt, dass ich ’ne Ladung toter Leuchtsardinen in die Steuertriebwerke bekommen oder so was.«
Der dünne Schweizer Geologe hockte schon vor einem Computer. »Wir sind gerade dabei«, sagte er nervös. »Die ersten Gleiter sind jetzt in der Geräteschleuse. Noch ein paar Minuten, dann wissen wir mehr. Greta, holst du die Wasserproben rein?«
Niemanden hielt es noch an seinem Platz. Überall in der Messe standen halb leer gegessene Frühstücksteller herum; ein Teil der Besatzung war zu Labor und Schleuse geeilt, auch Leon. Carima folgte den anderen Besatzungsmitgliedern durch das Schott zur Brücke, die gleich nebenan war Dort scharten sie sich um die Computer und mit der Teetasse in der Hand schaute ihnen Carima neugierig über die Schulter. Sie zuckte zusammen, als plötzlich Julian neben ihr stand. »Jetzt versuchen sie gerade, eine Verbindung zu den Gleitern herzustellen und die Daten abzurufen«, sagte er. »Echt spannend, was du hier alles geboten kriegst, was?«
Spannend? So nannte er das Massensterben um Hawaii herum? Was für ein Idiot. Carima antwortete nur mit einem kurzen Nicken, ohne Julian anzusehen. Und ihre Mutter? Ungläubig sah Carima, dass sie dabei war, die Teller abzuräumen und mit Kamuela zu schwatzen. Bei der war ja wirklich überhaupt nichts mehr zu retten. Womöglich heckten die beiden gerade neue Rezepte aus …
»Habe ich dir eigentlich schon meine E-Mail-Adresse gegeben? Ja, wir haben tatsächlich E-Mail hier unten.« Julian kritzelte etwas auf einen Zettel und drückte ihn ihr in die Hand. Carima steckte ihn ein und schaffte ein kurzes Lächeln dabei.
»Schaut euch das an. Da kommen die ersten Messwerte.« Aufgeregt beugten sich Matti Kovaleinen und Urs Walter über die Grafik, die sich gerade auf dem Bildschirm aufbaute. Für Carima sah es so aus wie ein bunter Flickenteppich, der vielleicht eine Spur zu grell geraten war und in dem überall Zahlen und Daten eingetragen waren. Ein großer violetter Bereich zog sich quer durch das Bild. »Wir haben die Bereiche mit unterschiedlicher Sauerstoffverteilung unterschiedlich eingefärbt«, erklärte Urs. »Grün ist alles, wo die Gleiter viel Sauerstoff im Wasser gemessen haben, gelb eingefärbt sind die Bereiche mit etwas weniger Sauerstoff
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