Ruf Der Tiefe
keine angenehme Vorstellung. Doch er spürte, dass es nicht das war, was Carima meinte. Leon schloss die Augen und horchte in sich hinein. »Ja. Es gibt etwas. Ich habe Angst, dass Tim sich beim Gleitschirmfliegen den Hals brechen könnte. Trotz der Sache mit meinen Eltern scheint er zu denken, dass er selber unsterblich ist. Und ich habe Angst um Lucy.«
»Wieso denn das?«
»Normalerweise leben Kraken nur ein bis drei Jahre, Lucy ist eine Ausnahme. Ihr Erbgut ist irgendwie künstlich verändert worden. Sie soll wesentlich älter werden, vielleicht sogar fünfzehn bis zwanzig Jahre. Wenn das wirklich gelingt, wäre das eine Riesensache für die ARAC, vorsichtshalber haben sie sich Lucys Gene patentieren lassen. Aber was ist, wenn es nicht klappt?« Schon beim Gedanken daran krampfte sich Leons Herz zusammen. »Es kann genauso gut sein, dass sie schon nächstes Jahr zu nisten beginnt. Und sobald ihr Nachwuchs auf die Welt kommt, ist Lucys Leben zu Ende. Kraken und Kalmare pflanzen sich nur ein einziges Mal fort.«
Leon hörte, dass Carima scharf die Luft einsog. »Was für ein Gedanke … Wenn du ein Kind haben willst, dann musst du bereit sein, dafür zu sterben. Wie alt ist Lucy jetzt?«
»Knapp vier. Kraken und Kalmare wachsen unglaublich schnell. Als ich Lucy bekommen habe, war sie nur so lang wie mein Zeigefinger. In den ersten Jahren musste ich sie noch beschützen, wenn wir im Meer unterwegs waren. Tja, jetzt ist es oft umgekehrt.« Plötzlich war ihm aus irgendeinem Grund selbst zum Heulen zumute und seine Stimme schwankte, er konnte es nicht verhindern.
Er fühlte, wie Carima nach seiner Hand tastete, und im ersten Moment erschrak er. Doch er zuckte nicht vor der Berührung zurück und ihre Finger verschränkten sich fest. Ein Gefühl durchströmte Leon, das er nicht kannte und nicht einordnen konnte – aber schön war es, ja. Sehr schön.
Still hielten sie sich eine Weile an der Hand, bis Carima flüsterte: »Sie werden sich fragen, wo wir sind. Am besten, wir gehen nacheinander.«
Leon ging zuerst. Er fühlte sich ausgeglichen wie selten zuvor und wie von selbst schlich sich ein Lächeln auf sein Gesicht. Während er sich den Gang entlangbewegte, spürte er zum ersten Mal, seit er das Lager betreten hatte, Lucys Berührung in seinen Gedanken. Wortlos teilte er seine Freude mit ihr.
Halb hatte er damit gerechnet, dass ihm auf dem Weg zum OceanPartner-Modul und seiner Kabine jemand begegnen würde, dass er irgendeine Geschichte würde erfinden müssen darüber, wo er gewesen war. Doch im OceanPartner-Modul entdeckte er niemanden, sämtliche Quartiere waren leer. Wo waren Julian, Billie und die anderen abgeblieben?
Auf der Brücke, der Kommandozentrale von Benthos II, wie sich herausstellte. Gedrängt voll war es dort. Auf einem der großen Bildschirme hatte Matti Kovaleinen die Nachrichten eines lokalen Fernsehsenders eingeblendet. Leon stellte sich hinter Ellard, John McCraddy und Louie Clément, um zuzusehen. »… haben sich Tausende von Menschen an den Stränden zusammengefunden, um das ungewohnt starke Meeresleuchten rund um die Hawaii-Inseln zu beobachten.« Verblüfft ließ Leon die Fernsehbilder auf sich wirken.
Ein Meer, das bei jeder Bewegung im Wasser hell aufblitzt, Wellen mit leuchtenden Konturen. Hingerissen staunende Menschen, manche schwimmen in diesem neuen, glitzernden Meer, lichtumflossene Körper in der Dunkelheit. Andere tauchen nur die Hände ins Wasser, schöpfen fließendes blaues Licht. Ein Schwenk über den Strand: Hunderte von dunklen Gestalten, Liebespaare halten sich eng umschlungen und alle blicken hinaus auf diese unerwartete Schönheit. Dann in Großaufnahme Gesichter, denen ein Mikro entgegengestreckt wird.
»In Tahiti gibt’s das auch, da habe ich das mal gesehen, aber nicht so stark, längst nicht so stark. Es sind irgendwelche Algen, die das machen, oder?«
»Einfach magisch! Es ist wie eine Botschaft der Natur oder ein Geschenk Gottes.«
»Herrlich, anders kann man es nicht sagen. Wunderschön!«
Ja, schön war es. Doch Leon konnte den Anblick nicht genießen – er hatte ein schlechtes Gefühl bei der ganzen Sache. Ein Geschenk Gottes? Warum sollte Gott etwas mit einem besonders starken Meeresleuchten zu tun haben? Etwas, das sein Vater einmal gesagt hatte, kam ihm in den Sinn . Nichts im Ozean geschieht ohne Grund, Leon.
Wenn er an irgendetwas glaubte, dann an das. Sie würden den wahren Grund für dieses Leuchten herausfinden müssen – und Leon war
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