Ruf Der Tiefe
Lampe, die er diesmal auf das weiterreichende Weiß geschaltet hatte, sah er ein Wesen, das ein bisschen so aussah wie eine stachelige Ananas. Aha, ein Vampirkalmar, kaum dreißig Zentimeter groß und über und über mit Leuchtorganen bedeckt. Seinen Namen verdankte er nicht seinen Fressgewohnheiten, sondern der Haut zwischen seinen Armen – beim Schwimmen schien er den wallenden Umhang eines Graf Dracula zu tragen. Das kam jetzt gerade nicht richtig zur Geltung, weil das arme Tier sich vor Schreck Mantel und Arme in seiner Abwehrhaltung über den Kopf gestülpt hatte.
Leon knipste die Lampe wieder aus. Er wusste, dass er aufpassen musste, solange er hier mit Leuchtschleim markiert durch die Gegend schwamm. Prompt spürte er, wie etwas ihn ins Bein zwickte. Ein Viperfisch, wie sich herausstellte; ein junger, nur etwa fünfzehn Zentimeter lang. Zum Glück waren seine langen, dünnen Zähne, die weit über sein Maul hinausragten, nicht durch die OxySkin gedrungen. Mit schnellen Flossenschlägen zog das Tier wieder ab. Such dir kleinere Beute , schickte Leon ihm hinterher und von Lucy kam eine Welle der Heiterkeit. Doch es gab hier unten andere Geschöpfe, die gefährlicher waren als der Viperfisch und denen er ungern begegnen wollte.
Besser, wir kehren um , teilte er Lucy mit. Ich muss sowieso zurück – hoffentlich hat noch niemand gemerkt, dass ich draußen war. Auf einen Schlag war seine heitere Stimmung dahin und ungebeten traten Bilder vor sein inneres Auge: Carima, die Julian küsste; Julian, der über ihre Haare strich – bestimmt waren sie seidig weich –, dessen Hände begannen, ihren Körper zu erkunden …
Leon zwang sich, die Bilder zu unterdrücken. Alles, was mit Carima zu tun hatte, war jetzt nicht gerade sein Hauptproblem. Er versuchte sich vorzustellen, welche Quittung er von Ellard für seine Verfehlung bekommen würde. Ein paar Strafdienste? Doppelte Hausaufgaben, bis ihm der Kopf rauchte? In Zukunft strengere Überwachung? Auch im Moment begleitete Ellard ihn und die anderen oft in der Cisco , wenn sie draußen unterwegs waren. Leon war das eher lästig, hier draußen musste ihm niemand das Händchen halten.
Schwimmen wir schnell . Lucys Gedanken klangen beklommen.
Hast du irgendetwas bemerkt?
Ja. Ich weiß nicht, was. Es ist großviel flink.
Gut, gab Leon knapp zurück. Dann ist es jedenfalls keine der großen Quallen. Wer mag die schon?
Lucy klang leicht empört . Nicht ich! Mehr Arme als Kawon haben die!
Nur kein Neid. Wahre Schönheit liegt nicht in der Anzahl der Arme.
Leon schwamm schneller und sog das sauerstoffreiche Perfluorcarbon in seine Lungen. Immerhin, das funktionierte tadellos, mit dem Wasser hier war alles in Ordnung. Während des Schwimmens richtete er das mobile Sonar seines DivePads aus und betrachtete das Diagramm auf dem erleuchteten Bildschirm, um herauszufinden, wo und in welcher Tiefe sich unter ihm der Meeresboden befand. Es war eine Art akustische Landkarte und hier unten sehr nützlich. Das Echo verriet ihm, dass tatsächlich etwas hinter ihm herschwamm. Vielleicht ein Kammzähner, einer dieser braun gefärbten, bis zu fünf Meter großen Tiefsee-Haie. Manchmal waren sie einfach nur neugierig, aber eben nicht immer.
Auf seinem DivePad sah Leon, dass der grüne Punkt der Station näher rückte – sie waren nur noch ein paar Hundert Meter von ihrem Zuhause entfernt. Doch das konnte ganz schön weit sein, wenn einem irgendetwas auf der Spur war. Während des Schwimmens tastete Leon nach seiner Lampe und leuchtete hinter sich, doch das Rotlicht reichte nicht weit genug, und dem weißen Licht wich das Wesen anscheinend aus.
Leon schwamm jetzt, so schnell er konnte, kraftvoll zerteilten seine Beinflossen das Wasser. Hoffentlich hielt Lucy das Tempo noch eine Weile durch. Kraken ermüdeten beim Schwimmen schnell, weil ihr Blut nicht so viel Sauerstoff transportieren konnte wie das der Menschen.
Da, jetzt konnte er Benthos II sehen! Die Station war gut zu erkennen, viele der Bullaugen waren erleuchtet. Waren er und Lucy etwa so lange draußen geblieben, war es schon Morgen? Dann war die Chance, dass er unbemerkt wieder hineinschlüpfen konnte, gering.
Da, da ist es! Ein schriller Laut in seinen Gedanken, und dann fühlte Leon auch schon eine Druckwelle, er wurde zur Seite geworfen und irgendetwas riss an seinem Bein, genau dort, wo der Leuchtschleim auf seinem Anzug haftete. Instinktiv rollte Leon seinen Körper zu einer Kugel zusammen, doch kurz vorher sah er
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