Ruf Der Tiefe
sechshundertfünfzig Meter Tiefe zugelassen, doch mit der OxySkin waren auch größere Tiefen kein Problem. Auf der Karte hatte Leon gesehen, dass es in der Umgebung der Station keine Todeszonen gab. Zumindest bisher nicht. Dieses ganze Tauchverbot war völlig übertrieben.
Schwankende grünblaue Lichtpunkte kamen Leon aus der Richtung der Station entgegen, und er ahnte schon, wer das war. Aha, wir bekommen Besuch! Könnte das Rosemarie sein?
Könnte, ja könnte. Ich weiß, sie wartet schon sehnsüchtig!
Nur keine Eifersucht, meine Liebe, erwiderte Leon amüsiert. Du weißt, mein Herz gehört nur dir.
Rosemarie war alles andere als eine Schönheit, jedenfalls für menschliche Augen. Sie hatte einen kurzen, plumpen Körper, über dem Kopf ein Anhängsel mit Leuchtspitze und direkt darunter ein gewaltiges Maul voller glasharter, spitzer Zähne. Zum Glück war sie nur etwa zweimal so lang wie Leons Hand, sonst hätte es diese wunderbare Freundschaft zwischen ihnen vermutlich nie gegeben.
Leon schaltete seine Tauchlampe auf Rotlicht und ließ sie aufleuchten. Ja, es war tatsächlich Rosemarie, mit hektisch wackelndem Körper schwamm sie ihm entgegen. Im Gegensatz zu anderen Anglerfischweibchen hatte sie es nicht mehr nötig, ihre weiblichen Reize zu betonen: Sie hatte schon ein Männchen gefunden und würde sich nie wieder von ihm trennen. Wie alle männlichen Anglerfische war auch ihr Auserwählter winzig und hatte sich wie ein Parasit an ihren Bauch geheftet, bis sein Blutkreislauf mit ihrem verschmolzen war. Rosemaries ganz persönliches Spermienpaket.
Das Rotlicht, das Leon voll auf sie gerichtet hatte, störte Rosemarie nicht im Geringsten. Wie fast alle Tiefseetiere konnte sie nur blaues, grünes und weißes Licht wahrnehmen, nicht aber rotes. Es gab so etwas hier unten, fernab des Sonnenlichts, normalerweise nicht. Wahrscheinlich hatte das Anglerfischweibchen Leon auch nicht gesehen, sondern durch seine Bewegungen im Wasser gespürt.
Ich fürchte, diesmal wird sie schwer enttäuscht sein von mir , dachte Leon. Er war so hastig aus der Station aufgebrochen, dass er nicht daran gedacht hatte, Futter mitzunehmen. Und so machten er und Lucy sich aus dem Staub, bevor Rosemarie merkte, dass sie sich umsonst angestrengt hatte.
Es war schwer zu übersehen, dass im Meer irgendetwas Ungewöhnliches geschah. Er hatte selten so viel Meeresschnee gesehen – wenn das so weiterging, kam man sich hier unten vor wie in einem Schneesturm. Das hieß vermutlich, dass an der Oberfläche besonders viele Algen abgestorben waren, die jetzt als kleine weißliche Flocken in Richtung Tiefseeboden rieselten.
Trotzdem war es ein Genuss, draußen zu sein. Wie immer hielt Leon Ausschau nach neuen Arten; die Chancen, in dieser fast unerforschten Wildnis ein der Wissenschaft noch nicht bekanntes Tier zu entdecken, waren groß. Wenn er bei seinen Ausflügen ein Wesen entdeckte, das er nicht einordnen konnte, fotografierte er es mit der Minikamera an seinem DivePad und fing es vorsichtig ein, um es zur Station zurückzubringen. Gewöhnlich machten sich dann entweder Greta Halvorsen oder John McCraddy hocherfreut daran, das Erbguts des Tieres zu isolieren und durch einen DNA-Barcoding-Scanner zu schicken. Ein Vergleich mit einer Datenbank ergab sehr schnell, ob Leons Fund neu war oder schon bekannt. Bis das Tier dann schließlich einen Namen bekam und wissenschaftlich beschrieben wurde, dauerte es Jahre – aber das machte Leon nichts aus. Wichtig war, dass er nur noch fünf neue Arten entdecken musste, bevor er einer von ihnen selbst einen Namen geben durfte. Hätte es seinen Eltern gefallen, dass ein Tiefseewesen nach ihnen benannt werden würde? Bestimmt.
Lucy und er waren ein Stück den Abhang hinuntergetaucht und alberten gerade herum, als Lucy ein kurzes Vorsicht, jemand ist da! auf ihn abschoss. Leon hielt mitten in der Bewegung inne. Zu spät, er war schon in das Wesen hineingerauscht – und es hatte ihn mit bläulich glimmendem Schleim bespuckt. Das Zeug haftete an seiner OxySkin, so- dass Leon jetzt aussah wie eine Leuchtboje. Ärgerlich versuchte er die Substanz von seinem Bein abzustreifen, denn Licht zog hier unten ruck, zuck irgendwelche Raubtiere an. Shit! Jetzt will ich aber wissen, wer das war! Er hatte einen Tintenfisch im Verdacht. Hier unten gaben sie keine schwarze Tinte von sich, wenn sie sich erschreckten – das wäre in der Dunkelheit völlig sinnlos gewesen – sondern eine Leuchtflüssigkeit.
Im Schein seiner
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