Ruf Der Tiefe
Frau neben ihr, die ihr manchmal so fremd war und manchmal so unerträglich vertraut, etwas Nettes zu sagen. Hey Ma, übrigens – danke für diesen Urlaub. Tut mir leid, dass ich manchmal so nervig bin wie ein Seeigel in deinem Schuh. Irgendwas in der Art.
Sie öffnete den Mund, doch sie hatte zu lange gewartet. »Ach Mist, wir müssen schon wieder tanken.« Ihre Mutter achtete nicht mehr auf sie, hieb wütend mit der flachen Hand aufs Lenkrad. »Und hier auf Hawaii ist alles sogar noch teurer als anderswo. Egal was. Essen, Sprit, Papiertaschentücher!«
Die Freude sickerte aus Carima heraus. »Na ja, schließlich müssen sie das meiste Zeug vom Kontinent herbringen«, sagte sie gleichgültig.
»Sag mal, könntest du vielleicht mal das Fenster zumachen? Es zieht mir schon die ganze Zeit in den Nacken.«
»Wieso sagst du dann erst jetzt was?« Schon hatte ihre Mutter es wieder geschafft, Carima auf hundertachtzig zu bringen.
Die nächsten Kilometer über schwiegen sie. Bis sie endlich, fast schon in Kona angekommen, eine Tankstelle fanden. Während ihre Mutter bezahlte, schlenderte Carima durch den Laden und blätterte die Zeitschriften durch, bis ihr Blick von der Titelseite des Honolulu Star Bulletin angezogen wurde. Den gab’s noch gedruckt, was zwar altmodisch, aber ganz praktisch war.
Quallen-Angriff!
Schwärme gefährlicher Quallen vor der Küste von Maui, Lāna’i und Moloka’i aufgetaucht – zwanzig Menschen schwer verletzt im Krankenhaus.
Hastig suchte Carima ein paar Münzen in den Taschen ihrer Shorts zusammen, kaufte sich die Zeitung und überflog den Artikel. Daraus wurde schnell klar, dass keiner so recht wusste, um was für eine Quallenart es sich handelte; sie war nie zuvor ein Problem gewesen. Ein Wissenschaftler äußerte die Vermutung, dass die Tiere aus der Tiefsee stammen könnten, und gab Tipps, was man tun sollte, wenn man versehentlich eine der Quallen berührt hatte. »Wir haben einstweilen die Strände gesperrt«, verkündete dazu der Gouverneur. »Aber es besteht kein Grund zur Besorgnis, bald werden Wind und Strömung die Tiere wieder auf den offenen Ozean hinaustreiben.«
Doch viele der Quallen waren offensichtlich nicht mehr in der Lage, davonzuschwimmen – das Foto neben dem Artikel zeigte in Overalls vermummte Helfer, die Glibberwesen in Säcke schaufelten.
»Sweet Jesus!« Ihre Mutter las über Carimas Schulter hinweg mit. »Das sieht ja übel aus. Schon wieder so was! Vielleicht sollten wir das mit dem Tauchen doch besser sein lassen.«
»Es stand nichts von Big Island in dem Artikel«, erwiderte Carima trotzig.
Ihre Mutter seufzte und sagte nichts mehr.
Während sie zu ihrem Hotel zurückfuhren, überflog Carima ohne großes Interesse den Rest der Zeitung. Ex-Präsident Obama erholte sich gut von dem zweiten Attentatsversuch, ein Foto zeigte, wie seine Nachfolgerin ihn am Krankenbett besuchte; in Afrika kämpften mehrere große Firmen angeblich mit Waffengewalt um ein neu entdecktes Vorkommen des Metalls Titan; die UN diskutierte über Hilfsprogramme für die Angestellten der allmählich zusammenbrechenden Fischerei-Industrie; schon zehntausend Niederländer hatten das Angebot angenommen, die durch den steigenden Meeresspiegel überfluteten Gebiete zu verlassen und sich in den östlichen Bundesländern Deutschlands anzusiedeln; eine Art von Öko-Sekte namens »No Compromise« fand immer mehr Anhänger, besonders unter Jugendlichen …
»Wieder daheim«, sagte ihre Mutter und parkte den Wagen. Daheim? Na ja, jedenfalls waren sie zurück im Hotel, in dieser Luxusoase mitten an der kargen Vulkansteinküste. Ihre Mutter stellte sich unter die Dusche und Carima ging ihre Mails checken. Ein paar Nachrichten von ihren Freunden in Deutschland … und eine Antwort von Leon! Carima fühlte ihr Herz schneller schlagen, als sie auf Öffnen klickte. Toll, dass er zurückgeschrieben hatte, also hatte sie seine Mail-Adresse richtig erraten; gut, dass sie sich seinen Nachnamen gemerkt hatte. Ihre Finger flogen über die Tastatur, als sie ihm eine Antwort schrieb. Wie seltsam, dass sie das Gefühl hatte, ihm alles sagen zu können – sie kannten sich doch kaum. Hoffentlich meldete er sich bald wieder. Auch von Julian war eine Mail gekommen, eine Antwort auf den kurzen Dank, den sie ihm geschickt hatte.
Freut mich, dass das Schwimmen mit Carag dir gefallen hat. Ist schon sehr ärgerlich, dass sie mir jetzt schon zum zweiten Mal einen Rochen zugeteilt haben. Denen kann man nur
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