Ruf Der Tiefe
häufig.
Nein, Benthos I war die weitaus bessere Möglichkeit. Doch dann dachte Leon wieder einmal, wie schon so oft, an das Gespräch, das er auf der Station belauscht hatte. »Und was ist, wenn ich in ein oder zwei Jahren nicht mehr mit Flüssigkeit tauchen kann?«, presste er hervor. »Was dann?«
Mit zusammengezogenen Brauen wandte Tim sich ihm zu. »Moment mal, woher weißt du das? Wir erzählen es nicht gerade herum, die Daten, die wir dazu haben, sind noch längst nicht …«
»Ist doch egal, woher ich es weiß!« Leon war bewusst, dass seine Stimme laut geworden war, aber es interessierte ihn nicht im Geringsten. »Ob ihr es nun bekannt gebt oder nicht, es ist anscheinend eine Tatsache, dass manche Taucher es wieder verlernen, und mir kann es genauso gut passieren. Ellard …«
Jetzt war auch Tims Stimme schärfer geworden. Seine blauen Augen blitzten. »Ja, genau, dann bist du auch nur in der Situation, in der James Ellard schon seit Jahren ist, das arme Schwein.«
»Was?« Leon stutzte.
»Du hast richtig gehört! Der Mann taucht, seit er laufen kann, er hat schon alles gemacht. Er war als Taucher auf Bohrinseln, bei Tiefsee-Bergbauunternehmen, in der Forschung. Das volle Programm.« Schritte näherten sich, und aus dem Augenwinkel stellte Leon fest, dass einer der Schiffsmechaniker auf sie zukam. Tim unterbrach sich sofort und sprach erst weiter, als der Mann wieder verschwunden war. »Als James mit fünfundzwanzig angefangen hat, beim OxySkin-Programm mitzumischen, war er schon zu alt, um das Ganze selbst auszuprobieren. Er hat’s nicht mehr gepackt, Flüssigkeit zu atmen, und das war sehr, sehr bitter für ihn. Aber er hat das Beste draus gemacht.«
Es fühlte sich eigenartig an, so viel über Ellard zu erfahren, ihn auf einmal als Mensch zu sehen und nicht nur als seinen Ausbilder. Doch Leons Kopf und Herz waren zu voll, um all das wirklich aufzunehmen. »Ja, ja, klar. Aber es ist dann doch etwas anderes, als auch noch sein Zuhause zu verlieren und …«
»Verdammt, Leon, hör doch einfach mal auf, dir selber leidzutun. Benthos II ist nur ein Projekt und jedes Projekt endet irgendwann!«
Benthos II – nur ein Projekt? Hatte Tim überhaupt einen Schimmer, wie viel diese Station ihm und den anderen bedeutete? »Weißt du was, du kannst mich mal!«, stieß Leon hervor und marschierte ohne einen Blick zurück davon, zu Lucy.
Doch weit kam er nicht. Auf dem Gang lief ihm jemand über den Weg, der ihn laut mit »He, Mister Redway – sagst du nicht mal mehr Hi?« ansprach. Leon zuckte zusammen und hob den Kopf. Es war Minh, der Kochsmaat. Ein breites Grinsen stand auf seinem Gesicht.
»Hab schon gehört, dass du an Bord bist, Leon. Sag nicht, du bist auch schlecht drauf. Irgendwie sind bei dieser Fahrt alle mies gelaunt.«
»Tja, ich auch«, murmelte Leon. »Kann ich dich später besuchen kommen? Jetzt ist’s grad schlecht.«
»Ey, aber wirklich! Ich hab ’ne neue CD aufgenommen, die musst du dir anhören. Der Sound ist der Hammer, Mann. Hab sogar schon drei hier an Bord verkauft.«
»Cool«, sagte Leon, erstaunt darüber, dass tatsächlich irgendjemand Minhs Songs mochte. Vor ein paar Jahren war Minh, dessen Eltern aus Vietnam stammten, mal Zweitplatzierter in einer Castingshow gewesen, und er behauptete steif und fest, er sei hier an Bord, weil er vor seinen Fans geflohen sei. Leon glaubte ihm kein Wort und hatte bisher hartnäckig Minhs Vorschlag abgelehnt, sein und Lucys Manager zu werden und ihnen Auftritte in Las Vegas zu verschaffen. Trotzdem mochte er Minh, und er hatte ihm immerhin schon einmal eins seiner selbst gemischten Parfums abgekauft, um es Billie zum Geburtstag zu schenken. »Deep Sea Surprise« hatte Minh das Zeug genannt, und ja, Billie war tatsächlich überrascht gewesen darüber.
»Also dann, see you!« Minh schlenderte weiter.
Leon wollte jetzt nur noch eins: zurück in den ruhigen, friedlichen OceanPartner-Raum. Doch als er dort ankam, stellte er fest, dass dort von Ruhe keine Rede sein konnte.
Im Gegenteil.
Entscheidung
Verdutzt blickte Leon sich um. Der Erste Offizier der Thetys , ein Argentinier namens Alberto Miguel Alvarez, stand in seiner makellosen Uniform neben dem Becken und beobachtete Lucy, als sei sie ein Ruderfußkrebs unter dem Mikroskop. Zur selben Zeit versuchte ein Wissenschaftler gemeinsam mit seiner Assistentin, Lucy zu füttern, ungeachtet dessen, dass sie sich in ihr Versteck zurückgezogen hatte und ein Haufen Muschelschalen vor dem Eingang
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