Ruf Der Tiefe
dass irgendjemand wusste, wo sie sich aufhielten. Und zweitens hatten die Veranstalter anscheinend eine Höllenangst davor, dass ein Taucher von irgendeinem Tiefseewesen verletzt werden könnte und sie auf ein paar Millionen Dollar Schadenersatz verklagte.
»Ja, ja, in Ordnung, macht nichts, vielleicht klappt’s ja ein andermal«, sagte Carimas Mutter freundlich ins Telefon – doch kaum hatte sie den Hörer aufgelegt, schleuderte sie den Stapel Touren-Prospekte auf den Boden. »Ich habe die Nase gestrichen voll von diesem Urlaub! Es ist nicht zu glauben, da hat man nur diese zwei Wochen im Jahr und dann dreht in dieser Zeit die verdammte Natur durch! Eigentlich können wir’s jetzt vergessen mit den Ausflügen, ist sowieso überall Ausnahmezustand. Ich habe einfach keine Lust mehr!«
Es war seltsam: Je wütender ihre Mutter war, desto ruhiger wurde Carima. Das war schon immer so gewesen, schon in ihrer Kindheit. »Na ja, es hätte schlimmer kommen können«, sagte sie nüchtern. »Das würden dir jedenfalls die Angehörigen von Leuten sagen, die im Urlaub von einem Tsunami oder einem Terroranschlag erwischt worden sind.«
»Carima, ich meine es ernst. Ich habe genug. Von allem.« Ihre Mutter wandte sich so ruckartig um, dass ihre blonden Haare einen Moment in der Luft zu schweben schienen. »Dieser Flug war zwar schweineteuer, vom Hotel ganz zu schweigen, aber das ist mir jetzt scheißegal! Wir reisen ab. Und zwar so bald wie möglich.«
Kalte Wut stieg in Carima auf. »Hey, sag mal, Ma, wie wäre es, wenn du auch mal mich fragst, was ich dazu sage? Es sind auch meine Ferien und du entscheidest so einfach über uns beide?«
Das Gesicht ihrer Mutter war knallrot. »Ja, verdammt, das mache ich! Du hast dir doch sowieso vorgenommen, mir die Zeit hier zur Hölle zu machen, stimmt’s?«
»Nicht wirklich, nein«, sagte Carima, plötzlich traurig. »Das hat sich einfach so ergeben.«
Und wie anders hätte dieser Urlaub sein können, hätte ihre Mutter Jeremy nach Hawaii mitgenommen und meinetwegen auch Shahid! Dann wären sie vielleicht ein paar Tage lang so etwas gewesen wie eine richtige Familie. Oder hätte sie, Carima, doch wieder alles kaputt gemacht?
»Willst du denn wirklich hierbleiben, obwohl wir ab jetzt weder schwimmen noch tauchen gehen können?« Einen Moment lang schien sich Nathalie Willberg zu beruhigen.
»Ja«, sagte Carima. »Das will ich.«
»Tja, das ist Pech.« Zum ersten Mal war das Lächeln ihrer Mutter ein ganz klein wenig hämisch. Sie ergriff den Telefonhörer. »Da ich diese Reise bezahlt habe, nehme ich mir auch die Freiheit, sie abzubrechen. Ich rufe jetzt die Fluggesellschaft an.«
»Dann tu, was du nicht lassen kannst!«, brüllte Carima, warf sich aufs Bett und griff nach der Fernbedienung.
Leon fand Tim beim Tiefsee-Lander auf dem Arbeitsdeck, er fachsimpelte mit den anderen Wissenschaftlern. Als er Leon bemerkte, wandte er sich um – und als Leon den Ausdruck auf seinem Gesicht sah, wurde ihm klar, dass Tim Bescheid wusste. Dass er schon Bescheid gewusst hatte, als Leon an Bord gekommen war. Dass er vielleicht sogar an der Entscheidung beteiligt gewesen war – sein Adoptivvater hatte bei der ARAC eine wichtige Position inne.
Schweigend gingen sie ein Stück nebeneinanderher, lehnten sich schließlich an einer Stelle, wo gerade niemand an Deck arbeitete, gegen die Bordwand.
»Es tut mir schrecklich leid, Leon«, sagte Tim schließlich und blickte aufs Meer hinaus. »Aber ich fürchte, es geht zurzeit nicht anders. Ich werde alles versuchen, was in meiner Macht steht, um dich in einem anderen Projekt der ARAC unterzubringen, vielleicht in der Karibik, auf Benthos I. Falls es nicht klappt – du kannst natürlich bei mir in San Francisco leben, ich würde mich wirklich freuen.«
Leon nickte schweigend. Er hatte drei Jahre lang – während seiner Zeit im Meeres-Internat – mit Tim gelebt und wusste, dass es nicht besonders gut funktionierte. Wenn Tim an einem Projekt mitarbeitete, stürzte er sich mit Haut und Haaren hinein und vergaß alles andere, inklusive seines Adoptivsohns. Unzählige Wochenenden hatte Leon mit ihm im Scripps-Meeresforschungsinstitut in La Jolla oder weitgehend allein verbracht, weil sich Tim einfach nicht von seiner Arbeit losreißen konnte. Und abends dann die Partys. Nein, das brauchte er nicht mehr. Außerdem mochte er Charlene, Tims aktuelle Freundin, nicht besonders. Was allerdings kein großes Problem war, Tims Freundinnen wechselten
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