Ruf Der Tiefe
dem wohlwollenden Lächeln, das Fabienne Rogers aufsetzte, sehen, dass sie ihn nicht ernst nahm. Mit einem solchen Lächeln bewunderte man das gekritzelte Bild, das einem ein Kindergartenkind schenkte.
»Das ist eine sehr fantasievolle Erklärung«, sagte sie milde. »Bisher haben unsere Wissenschaftler allerdings eher den Klimawandel im Visier. Schon jetzt hat er eine Menge angerichtet in den Meeren, und eine besonders hässliche Sache ist, dass sich dadurch anscheinend die Meeresströmungen ändern. Du weißt ja sicher, dass solche Strömungen auch die Tiefsee mit Frischwasser und Sauerstoff versorgen, oder?«
»Aber dieses Echo?«
Fabienne Rogers runzelte die Stirn. »Möglicherweise war es ein Pottwal. Vielleicht sogar Shola.«
»Shola kann es nicht gewesen sein«, wagte Leon einzuwenden. »Unsere Tiere tragen doch alle Peilsender, wir wissen immer, wo sie sich befinden.« ›Fantasievoll‹ hieß in diesem Fall wohl eher idiotisch. Aber egal. Sich hier zu blamieren war sowieso nicht weiter tragisch im Vergleich zu dem, was er sich auf Benthos II geleistet hatte. Würde sie das nicht mal erwähnen? Oder kam das jetzt noch?
Anscheinend schon, denn nun sagte Rogers: »Leon, ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten für dich.« Wieder lehnte sie sich über ihren Schreibtisch und jetzt triefte ihr Blick geradezu vor Mitleid. »Bis wir herausgefunden haben, was es mit diesen Zonen auf sich hat, wird das Manganknollen-Projekt, an dem du mitarbeitest, für unbestimmte Zeit unterbrochen. Benthos II wird demnächst evakuiert.«
Leon konnte sich nicht bewegen, nicht sprechen. Er fühlte sich, als habe ihn ein Tauchboot gerammt. Ganz langsam sickerte es in ihn ein, was er gehört hatte.
Benthos II wird evakuiert!
Sie war tatsächlich eine Göttin – eine, die die Macht hatte, ihm mit einem einzigen Satz das Zuhause zu nehmen. Ein anderes hatte er nicht. Solange er in der Station wohnte, konnte er mit Lucy zusammen sein; dort waren seine Freunde, dort lernten sie, stritten sie, spielen Geocaching zusammen. Doch was zählte das schon? Solche Dinge interessierten doch einen Konzern wie die ARAC nicht.
Ihm wurde bewusst, dass Fabienne Rogers ihn genau beobachtete. Sie schob ihm den Teller mit den Keksen zu, als sei er ein kleiner Junge, der sich gerade das Knie aufgeschlagen hatte. »Ich verstehe, dass dich das hart trifft, aber …«
»Was passiert dann mit mir … mit uns?«, krächzte Leon. »Mit Julian, Billie, Tom?«
»Das ist noch nicht entschieden. Du kannst einstweilen auf dem Schiff bleiben. Für Lucy ist hier ja gesorgt, ihr wird es an nichts fehlen.« Jetzt war Mrs Rogers’ Stimme nüchtern, und einen Moment lang sah Leon hinter dem freundlichen Lächeln, den Keksen und dem Mitleid die knallharte Managerin.
Jetzt wusste er also, warum sie ihn nicht auf seine Befehlsverweigerung angesprochen hatte. Sein Fehlverhalten war im Vergleich dazu, dass die ganze Station geschlossen werden sollte, eine Lappalie. Aber warum hatte sie ihn und Lucy dann überhaupt hochbeordert? Warum erfuhr er als Erster, dass die Station geschlossen werden würde?
Doch bevor er fragen konnte, stand Fabienne Rogers hinter ihrem Schreibtisch auf und streckte die Hand aus. »Danke, Leon. Sicher wird Lucy es zu schätzen wissen, wenn du dich jetzt wieder um sie kümmerst.«
Apathisch stand Leon auf, schüttelte seiner Chefin die Hand und ging zur Tür. Er spürte nicht, wie seine Füße den Boden berührten; sein ganzer Körper fühlte sich taub an. Doch unter der Oberfläche brodelte es in ihm und noch ein letztes Mal wandte er sich um. »Hören Sie, Mrs Rogers«, sagte er und versuchte, halbwegs ruhig und vernünftig zu klingen, bloß nicht so verzweifelt, wie er sich fühlte. »Vielleicht kann ich irgendwie helfen. Ich kenne mich in der Tiefsee aus, ich bin einer der wenigen Menschen, die sich wirklich frei dort unten bewegen können, auch über längere Zeit. Vielleicht könnte ich mithelfen herauszufinden, warum in dieser Meeresregion so seltsame Dinge geschehen! Das wäre doch einen Versuch wert, oder? Ich könnte mit Billie zusammenarbeiten. Shola ist inzwischen alt genug, um bis in dreitausend Meter Tiefe vordringen zu können …«
Doch Fabienne Rogers hob nur die Augenbrauen. »Nein, vielen Dank, Leon, aber das wäre wirklich viel zu riskant.«
Und damit war das Gespräch endgültig beendet.
Wie sich herausstellte, wurde aus dem Nachttauchgang mit den Mantas nichts. Denn erstens blieben gerade die Mantas aus, ohne
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