Ruf Der Tiefe
Gedanken wegzuschieben. Auf einmal wurde ihm ganz und gar bewusst, wo er war … oben . An einem Ort, an dem es so etwas wie Wetter gab. Wolken. Einen weiten Himmel. Er schloss einen Moment lang die Augen, hob das Gesicht der Sonne entgegen und spürte den Wind, der über seine Haut strich.
Es war Carimas Welt, nicht seine. Doch in manchen Momenten gefiel diese Welt ihm gar nicht so schlecht.
Carima lehnte sich über die Balkonbrüstung, atmete den Geruch der violetten Bougainvillea ein, die in Kaskaden von den Gebäuden herabwucherte, und blickte über die Hotelanlage hinaus. Meerblick hatten sie keinen mehr bekommen, und ihre Mutter hatte eine fürchterliche Szene gemacht deswegen, was aber nichts genutzt hatte.
Manchmal hatte sie das Gefühl, ihre Mutter keinen Moment länger aushalten zu können, doch sie ahnte, dass sie beim Abschied von diesen Inseln – und ja, auch von ihrer Mutter – traurig sein würde. Wegen der vielen verpassten Chancen. Doch eine Chance hatte sie vielleicht nicht vorübergehen lassen … sie war froh darüber, dass sie Leon gemailt hatte. Ob er ihr wieder zurückgeschrieben hatte?
»Aber wieso denn das? Das kann doch nicht sein! Ja, rufen Sie mich zurück, wenn Sie mehr wissen – ich bitte darum!« Ihre Mutter knallte den Telefonhörer auf und ging ins Bad. Die Klospülung rauschte, dann marschierte Nathalie Willberg zur Zimmertür. »Los, komm, wir gehen jetzt zum Pool.«
»He!«, rief Carima. »Was ist denn los?«
»Alles ausgebucht«, schnaubte ihre Mutter. »Anscheinend sind wir nicht die Einzigen, die auf die Idee gekommen sind, zurückzufliegen. Aber der Heini von der Airline hat mir versprochen, dass wir ganz oben auf die Warteliste kommen, falls noch jemand abspringt.«
»Mit oder ohne Fallschirm«, murmelte Carima und holte ihr großes Badehandtuch mit den Delfinen, das sie von ihrem Vater für die Reise bekommen hatte.
Als Leon zurückkehrte, war das Labor nicht mehr leer, ein Mann saß mit dem Rücken zu ihm vor dem Computer. Das war wohl Francis Montesquieu. Lautlos zog sich Leon wieder zurück – und kam sich im selben Moment albern vor. Warum fragte er ihn nicht einfach? Leon zwang sich, anzuklopfen, und der Wissenschaftler wandte sich mit höflich-abwartendem Blick zu ihm um. Sein ebenmäßiges, kaffeebraunes Gesicht wurde von einem sorgfältig gestutzten Schnurrbart geziert. Er war deutlich älter als Tim und mit seinem gestreiften Hemd förmlicher angezogen, als es an Bord üblich war. »Was gibt’s?«, fragte er.
»Ich habe zufällig gehört, dass Sie etwas über Lucy – meine Krake – wissen …«
Montesquieu hob eine Augenbraue. »Wer hat denn so was gesagt? Ist gar nicht mein Bereich.« Er drehte sich wieder seinem Arbeitstisch zu, auf dem Glasröhrchen standen, und bemerkte ohne einen Blick in Leons Richtung: »Am besten, du wendest dich an den Fahrtleiter.«
»Okay, danke.« Leon spähte auf die Papierstapel, die auf dem Schreibtisch lagen. Der Ausdruck der Mail war nicht mehr da. Doch er ging ihm nicht mehr aus dem Kopf, auch als er sich längst wieder ins Zwischendeck zurückgezogen hatte.
Octopus C-459/IIB »Lucy« – das klang so schrecklich seelenlos. Als sei Lucy nur ein Labortier. Er musste versuchen, mehr über die ganze Sache mit der »Prozedur« herauszufinden. Vielleicht brachte es etwas, noch ein bisschen in Montesquieus Mails zu stöbern. Nur konnte er das nicht tun, während der Kerl an seinem Schreibtisch hockte und so tat, als wisse er von nichts; und er brauchte dessen Zugangscode fürs Bordnetz. Leon überlegte. Die Wissenschaftler arbeiteten in mehreren Schichten rund um die Uhr, doch irgendwann musste auch Montesquieu mal schlafen …
Den Nachmittag verbrachte Leon erst mit seinem Lernprogramm, dann im Becken mit Lucy. Es gefiel ihnen beiden nicht, dass das Schiff so groß war – oft waren sie so weit voneinander entfernt, dass nur noch ein ganz schwacher oder gar kein Gedankenkontakt sie verband.
Beide fühlen wir uns nicht wohl auf dem Großfloß , stellte Lucy fest.
Leon seufzte. Stimmt. Und ich weiß nicht mal, wie lange wir noch hierbleiben müssen. Vielleicht kommen Julian, Billie und Tom bald her, dann wird ’ s bestimmt besser.
Eine Welle der Empörung. Besser? Dann ist Carag auch noch hier drin!
Hey, Saugnapf, jetzt hör aber mal auf zu meckern! Das Becken ist groß genug für euch beide. Leon kitzelte seine Partnerin, bis sie ihre Arme von ihm löste, aber vorher revanchierte sie sich noch, indem sie ihm mit
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