Ruf Der Tiefe
Glück durchsuchte Leon noch ein paar Ordner – und stutzte, als er auf einem Dokument mit dem Datum von gestern Lucys Registriernummer wiedererkannte: O/C-459/IIB . Die beiden zusammengehefteten Seiten enthielten nur Zahlen und Daten, er wurde nicht schlau daraus, aber auf der ersten Seite stand groß »Ergebnis der Entnahme«. Er musste das verdammte Ding mitnehmen, es irgendjemandem zeigen und dann möglichst unauffällig wieder in den Ordner zurücktun …
»Äh, Leon?« Minhs Stimme.
»Ja? Bist du drin?«
»Nee. Hab im Bordnetz gerade ’nen Schichtplan ausgegraben. Dieser Montesquieu ist ab zehn Uhr für irgendwas eingeteilt. Kann sein, dass er dann noch mal hier aufkreuzt.«
»Wie lange ist es noch hin bis zehn?«
»Zwei Minuten.«
»Zwei Minuten?! Los, schalt das Terminal ab und dann raus hier!«
»Hey, entspann dich, Mann, bin gleich so weit.«
Leon wartete ungeduldig, bis sein Freund sich ausgeloggt und das Terminal abgeschaltet hatte. Dann stürzten sie beide zur Tür und drängten sich hinaus.
Keine drei Atemzüge nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, bog Francis Montesquieu um die Ecke.
»Und als ich in Chicago gewohnt hab, ist mir echt mal Obama übern Weg gelaufen …«, sagte Minh in einem gedämpften Plauderton.
»Tatsächlich?« Leon schlenderte den Gang entlang, obwohl er wesentlich lieber gerannt wäre.
»Ich schwöre! Beim Bart meiner Mutter!«
»Beim Bart deiner …?«
Leon hörte keine Schritte mehr hinter sich, wahrscheinlich war Montesquieu vor der Tür seines Labors stehen geblieben. Blickte er ihnen jetzt nach? Erinnerte er sich daran, dass Leon ihn angesprochen hatte, war er misstrauisch geworden? Würde er merken, dass sein Stuhl noch warm war?
Doch Montesquieu rief ihnen nicht nach, sie hörten die Tür des Labors zuklappen und dann waren Leon und Minh auch schon draußen aus dem Container und auf dem Weg zurück aufs Hauptdeck.
Leon steckte die Hand in die Tasche und berührte das Blatt mit den Zahlen und Daten, das er aus dem Ordner mitgenommen hatte. Vielleicht hielt er den Schlüssel zur Lösung des Rätsels schon in der Hand. Doch er verstand ihn nicht. Der Gedanke machte ihn fast wahnsinnig.
»So, ich geh jetzt mal ’ne Runde pennen«, verabschiedete sich Minh bestens gelaunt. »Muss um fünf Uhr aufstehen, Brötchen backen. Hey, war cool, das Ganze. Sag Bescheid, wenn’s noch mal was zu tun gibt!«
»Mach ich«, murmelte Leon und blickte Minh nach, als er davonging. Für den Kochsmaat war das alles nur ein Spiel, und Leon konnte nur hoffen, dass er den Mund hielt und sich nicht verplapperte.
Gerade gingen die Bord-Elektronikerin Laila und der Bootsmann an ihm vorbei.
»… schon fünf Tote …«, hörte Leon Carl, den muskulösen Bootsmann, sagen. »Ich sag dir, die werden jetzt echt nervös, weil die Touris…«
Schockiert hielt Leon inne, unterbrach die beiden Besatzungsmitglieder einfach. »Fünf Tote? War es wieder etwas … hatte es wieder etwas mit dem Meer zu tun?«
Carl blieb stehen und legte ihm kurz eine seiner Pranken auf die Schulter. »Na, Leon, was hälst’n du als Taucher von der Sache? Auf einmal Schwärme giftiger Quallen vor den Inseln. Gab doch nie ein Problem mit so was hier. Und auch noch richtig fiese Biester. Wenn du zufällig eins davon berührst, dann nesselt dich das Vieh, sodass dir Hören und Sehen vergeht. Nach ein paar Minuten bricht dir der Kreislauf zusammen und das war’s dann.«
»Keiner traut sich mehr, auch nur einen Fuß in die Wellen zu stecken.« Laila verzog das Gesicht. »Eigentlich wollte ich mit Emond ein romantisches Wochenende in Honolulu buchen, aber ich fürchte, da wird nichts draus. Hast du schon mitgekriegt, dass die Lorenz sämtlichen Landurlaub gestrichen hat? Als ich das gehört habe, dachte ich, nee, das kann doch jetzt nicht …«
Die beiden gingen weiter, sie hatten längst vergessen, dass sie eigentlich Leon nach seiner Meinung als Taucher gefragt hatten. Doch Leon hätte sowieso nicht viel herausgebracht. Schon wieder Tote! Das waren alles Leute mit Zukunftsplänen gewesen, mit Menschen, die sie liebten und die jetzt unter Schock standen, vielleicht mit Kindern, die jetzt so wie er damals kapieren mussten, wie endgültig das Sterben war …
In dieser Nacht kehrte Leon nicht in seine Kabine zurück, die ohne Tim sowieso furchtbar leer war, sondern hüllte sich in eine Decke und legte sich neben Lucys Becken. Seine und Lucys Gedanken flossen ineinander wie zwei Flüssigkeiten, die
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