Ruf Der Tiefe
Pflanzen wenig zu fressen gab, war das ein Riesenereignis und für die Tiere in mehreren Kilometern Umgebung ein Glückstreffer – ein bisschen so wie ein Klumpen Gold, der irgendwo an Land ganz plötzlich vom Himmel fiel.
Neugierig näherte sich Leon dem Wal. Längst hatten sich Schleimaale über die riesige Leiche hergemacht und waren dabei, Fleisch von den mehr als doppelt mannshohen Knochen zu nagen. In solchen Massen hatte Leon Schleimaale noch nie gesehen, wie armlange Würmer wimmelten sie auf dem Kadaver herum. Auch verschiedene Arten von Krebsen säbelten eifrig an dem toten Tier. Mit ihren feinen Sinnen hatten sie wahrscheinlich innerhalb kürzester Zeit gemerkt, dass ein Festmahl eingetroffen war. Tim hatte mal erzählt, dass eine solche Fresserei mehrere Jahre lang dauern konnte, bis endgültig nichts mehr übrig war und Meereswürmer, die wie kleine rote Palmen aussahen, sowie Muscheln und Bakterien sogar die sehr fetthaltigen Knochen zersetzt hatten.
Stumm vor Ehrfurcht schwamm Leon um den toten Wal herum und der Schein seiner Lampe warf geisterhafte Schatten über den Tiefseeboden.
Lucy? Leon blickte sich um. Wo war seine Partnerin abgeblieben? Wie sich herausstellte, ignorierte sie den Kadaver völlig, Aas zu fressen war unter ihrer Würde. Dafür hatte sie schon mehrere Krebse erbeutet und sich mit ihrem Snack unter eine der Walflossen zurückgezogen. Ihre Haut hatte Farbe und Struktur des Meeresbodens angenommen, sie war perfekt getarnt.
Na, schmeckt’s?, schickte Leon in ihre Richtung … und wunderte sich, warum sich Lucy bei seinem Anblick tiefer in die Schatten zurückzog.
Wie können die uns finden?, schrie Lucy in seinem Kopf. Erschrocken drehte sich Leon um die eigene Achse – und hielt den Atem an.
Gelbe Wolken
Das Licht seiner Lampe fiel auf ein knallgelbes, etwa einen Meter langes Objekt, das sich ihnen fast lautlos genähert hatte. Mit seinen seitlichen Flügeln sah es aus wie eine Kreuzung aus Modellflugzeug und Torpedo. Leon erkannte es sofort. Das war einer der Gleiter, die auch die Wissenschaftler auf Benthos II schon eingesetzt hatten. Sie waren mit Instrumenten bestückt und durchstreiften nach einem vorgegebenen Auftrag den Ozean, um Daten zu sammeln.
Da, da ist noch einer , schrillte Lucy. Drei!
Leon drehte sich um die eigene Achse. Ja. Drei waren es, ein vierter war gerade im Anflug – und alle näherten sich, alle zielten mit dem Bug auf ihn. Eins war klar, die waren gerade nicht unterwegs, um meereskundliche Daten zu sammeln. Soweit Leon sich erinnern konnte, besaßen sie nur ein ganz einfaches Echolot, das die Wassertiefe anzeigte, damit sie genügend Abstand vom Boden halten konnten. Normalerweise hatten sie keine Kameras an Bord, doch man konnte solche zusätzlichen Instrumente auf der Oberseite ihres Rumpfs montieren. Ja, irgendwas war auf den Gleitern angebracht worden, doch es sah eher so aus, als seien es Wärmesensoren.
Dafür sprach, dass sie Lucy überhaupt nicht beachteten. Kraken waren keine warmblütigen Tiere und ihre Körpertemperatur entsprach gewöhnlich der des Umgebungswassers. Leon war durch seine OxySkin zwar gut gegen die Wasserkälte isoliert, doch ein wenig Wärme strahlte er trotz allem ab – und der waren die Gleiter auf die Spur gekommen.
Wütend und frustriert blickte Leon den Gleitern entgegen. Waren er und Lucy der Thetys und dem Tauchboot entkommen, nur um von diesen blöden Blechbüchsen aufgespürt zu werden? Womöglich meldeten sie gerade in diesem Moment an die Zentrale, dass sie ein Ziel aufgespürt hatten …
Komm! Zu mir, flink!, rief Lucy ihm zu, und instinktiv folgte Leon ihrem Ruf, glitt unter die breite Flosse des Wals. Vielleicht schirmte ihn das Ding vor den Wärmesensoren ab. Nach einem letzten Blick in die Runde schaltete Leon seine Lampe ab und kauerte sich neben Lucy in der Dunkelheit zusammen; ihre Arme umklammerten sein Bein. Au, nicht so fest! Du musst deine zweitausend Saugnäpfe doch nicht alle an mir ausprobieren!
Verlegen lockerte Lucy ihren Griff.
Es war unheimlich, dem riesigen Kadaver so nah zu sein. Leon wusste, dass sich keine Handbreit neben ihm die gewaltige Flanke des Wals wölbte, dass die schiefergraue Haut zerfurcht und von Kratern übersät war; an vielen Stellen schaute die helle Speckschicht hervor. Hoffentlich berührte er diese Haut nicht versehentlich; besser, er bewegte sich nicht. Leon war froh, dass er unter Wasser keine Gerüche wahrnehmen konnte.
Er konnte nur vermuten, wie viel
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