Ruf Der Tiefe
Zeit verging. Es kam ihm vor, als kauere er schon länger als eine Stunde bewegungslos hier unten in der Dunkelheit, doch vielleicht waren es nicht einmal zehn oder zwanzig Minuten. Spürst du die Gleiter? Sind sie überhaupt noch da?
Lucy klang unsicher. Großviel Bewegung im Wasser … aber nicht Gleiter. Vielleicht …
Vielleicht entsteht, während der Wal sich zersetzt, Wärme und die Gleiter hängen noch stundenlang hier herum. Der Gedanke, noch länger direkt neben dieser Leiche gefangen zu sein, war alles andere als angenehm.
Nein, nicht Gleiter! Etwas ist da. Mach Licht!
Grimmig tastete Leon nach der Lampe … und spürte im selben Moment, dass der riesige Kadaver neben ihm erbebte. Irgendetwas hatte den toten Wal gerammt! Leon schaffte es, ruhig zu bleiben und die Lampe anzuschalten. Ihr Lichtkegel durchschnitt das Schwarz des Meeres … und erfasste einen dunkelgrauen Hai mit flacher Schnauze. Leon schätzte, dass das Tier mindestens dreimal so groß war wie er selbst. Es bewegte sich langsam, fast bedächtig, doch Leon wusste, welche Kraft in diesem torpedoförmigen Körper steckte. Und jetzt nahm der Hai Anlauf, bohrte die Schnauze in den Leib des toten Buckelwals und riss einen Brocken Fleisch heraus. Wieder erzitterte der Kadaver.
Langsam beruhigte sich Leons Herzschlag wieder. Ein Pazifischer Schlafhai , berichtete er Lucy. Der war zwar auch nicht müder als andere Fische, doch so wie viele Tiere hier in der kargen, futterarmen Tiefsee lebte er förmlich in Zeitlupe, um möglichst wenig Energie zu verbrauchen. Gefährlich war er vermutlich nicht, wenn man sich nicht gerade zwischen ihn und sein Festessen stellte. Es gab Tiere, vor denen Leon weit mehr Respekt hatte – zum Beispiel die Praya-Qualle mit ihren fünfzig Meter langen Fangarmen, die wie ein riesiges Spinnennetz durch die Dunkelheit der Tiefe driftete.
Der Hai war mit seiner Mahlzeit so beschäftigt, dass er Leon, das ungewohnte Licht und alles andere in der Umgebung völlig ignorierte. Doch das beruhte nicht auf Gegenseitigkeit. Ein Gleiter tauchte im Lichtkreis auf, und Leon wurde klar, dass die Geräte die Suche nach ihm keineswegs eingestellt hatten. Hastig duckte er sich unter die Flosse zurück – doch zuvor sah er noch, wie der Gleiter sich zielstrebig auf den Hai zubewegte. Leon grinste. Als aktive Jäger hatten Haie gewöhnlich eine Körpertemperatur, die ein paar Grad über der des Umgebungswassers lag – anscheinend brachte es selbst dieser Schlafhai auf genügend Wärme, dass er die Aufmerksamkeit der Gleiter auf sich zog. Und tatsächlich, als der Hai nach einer Viertelstunde Fresserei weiterzog, hatte er ein Gefolge von vier gelben Gleitern, die ihn bei seinem würdevoll-langsamen Rückzug eskortierten wie eine Motorradstaffel ein Staatsoberhaupt.
Herzlichen Dank , dachte Leon, kroch unter der Flosse hervor und war froh, seinen Körper endlich wieder strecken zu können. Lucy hingegen schien ihr Versteck nur zögerlich zu verlassen.
Bleiben wir? Der Platz ist großviel gemütlich.
Leon verzog das Gesicht. Was ich brauche, ist ein guter Platz zum Schlafen – aber nicht neben diesem toten Wal!
Nach kurzen Verhandlungen einigten er und Lucy sich darauf, einen Ort zum Ausruhen zu suchen. Sie fanden ihn etwas näher an der Küste Big Islands, zwischen ein paar großen Felsen.
Leon checkte seine OxySkin, stellte fest, dass sie blendend funktionierte, und schloss die Augen. Eine Weile kreisten seine Gedanken noch um die Flucht, um die Gleiter, um den Hai, doch allmählich spürte er, wie er ruhiger wurde. Schwerelos im Wasser schwebend konnte er sich immer am besten erholen. Ganz allmählich driftete er in den Schlaf … und fand sich in einem Traum wieder. Sein Körper und der eines Mädchens, eng umschlungen … seine Hände wölben sich über ihre Brüste, rund und fest und wunderbar fühlen sie sich an … seine Lippen gleiten an ihnen entlang und das Mädchen stöhnt auf, saugt sich an seinem Nacken fest …
Mit einem Ruck erwachte Leon und stellte fest, dass einer von Lucys Armen sich um seinen Nacken verirrt hatte. Angewidert löste er die Saugnäpfe von seinem Hals und versuchte frustriert, wieder einzuschlafen.
Alberto Miguel Alvarez stand in einem Container an Bord der Thetys , der als Steuerzentrale ausgerüstet worden war, und blickte den Piloten des Unterwasserroboters mit gerunzelter Stirn über die Schulter. Einer der beiden »flog« das ROV, der zweite Mitarbeiter kümmerte sich um die Navigation und
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