Ruf Der Tiefe
haben«, schnauzte Alvarez die Pilotin des Tauchboots über die Sprechverbindung an.
»Ich weiß es auch nicht«, kam es zurück. »So was kann vorkommen, schließlich ist das kein militärisches U-Boot, wir machen hier normalerweise Forschung, Alvarez, und das wissen …«
»Jetzt hören Sie mir mal zu – Gabriel Holzner, der Sicherheitschef der ARAC, hat mich persönlich angerufen und mich gebeten, die Suche nach diesem Jungen zu koordinieren! Sie glauben doch nicht etwa, dass ich so leicht aufgebe?«
»Natürlich nicht, es ist nur die Frage, ob Ihnen das etwas nützen wird«, antwortete die Pilotin ungerührt und wütend knallte Alvarez das Mikro wieder in die Halterung.
Anscheinend blieb ihm nichts anderes übrig, als die Sache anders anzugehen. Ganz anders. Er hatte schon eine Idee.
Mit gleichmäßigen, kräftesparenden Flossenschlägen machte sich Leon auf den Weg nach Süden. Doch Lucy blieb nicht wie gewohnt an seiner Seite. Jagen werde ich , verkündete sie und Leon sandte eine kurze Ermutigung zurück. Er selbst hatte weder Hunger noch Durst, und das würde sich auch nicht ändern, solange er den Anzug trug. Der Konverter an seinem Werkzeuggürtel hatte, während Leon den Schwarm durchquerte, Plankton aus dem Wasser gesogen und in Proteine, Fette und Kohlehydrate aufgespalten. Angereichert mit Traubenzucker und Vitaminen aus einem Vorratsbehälter flossen sie über die Venenkanüle in Leons Arm direkt in seinen Blutkreislauf. Und Flüssigkeit gab es im Meer reichlich, sie wurde ebenfalls vom Konverter aufbereitet und intravenös verabreicht. Auch um die Entsorgung brauchte er sich keine Gedanken zu machen: Für Urin und andere Abfallprodukte seines Körpers gab es eine Schleuse in der OxySkin, die alles Unerwünschte nach draußen beförderte.
Sie schwammen jetzt westlich des Laupahoehoe Slump, einer zweiten unterseeischen Rutschung, entlang und hielten sich dicht über dem Boden, auch wenn Leon ziemlich sicher war, dass sie sich inzwischen außer Reichweite des Schiffs-Echolots befanden. Er hörte jedenfalls keine Schallimpulse.
Lucy pirschte sich perfekt getarnt an eine Krabbe heran, und bevor das Krustentier begriffen hatte, dass Gefahr drohte, hatte Lucy schon blitzschnell ihren Körpermantel darübergestülpt. Sie machte sich an die komplizierte Zerlegung ihrer Beute.
Leon ruhte sich im Wasser schwebend aus. Inzwischen wusste Tim bestimmt, dass er geflohen war. Der Gedanke daran war wie eine Messerspitze, die sich langsam in seine Haut bohrte. Wie sehr vertraute ihm Tim eigentlich? Konnte er sich denken, dass sein Adoptivsohn gute Gründe gehabt hatte, das Schiff zu verlassen? Oder war er einfach nur wütend?
Fast von selbst klickten Leons Finger die Ultraschall-Verbindung auf An. Er wusste selbst nicht, was er sich davon versprach, wessen Stimme er zu hören hoffte. Doch es war sowieso etwas ganz anderes, das an seine Ohren drang. Es war einer von Minhs Songs: »The path is rough sometimes, and dark the night … But love will light your way, yeah, love will light your way.«
Unter der OxySkin-Maske musste Leon grinsen. Ja, rau war sein Weg tatsächlich und dunkel war es hier auch. Fehlte nur noch die Liebe, die ihm den Weg wies. Minhs Texte hatten immer einen hohen Kitschfaktor. Trotzdem war Leon gerührt. Ja, er hatte Minhs Botschaft verstanden – es gab Menschen auf der Thetys , die an ihn dachten und ihm Glück wünschten.
Während er und Lucy sich weiter nach Süden vorarbeiteten und sorgfältig darauf achteten, ob sie irgendetwas Ungewöhnliches sahen, ließ er die Verbindung eingeschaltet. Die Uhr an seinem DivePad war ausgefallen, und Leon hatte keine Ahnung, wie spät es war, als die Ultraschall-Verbindung plötzlich wieder zum Leben erwachte. Er wusste nur, dass es Nacht sein musste, denn in letzter Zeit waren Leuchtsardinen, Tiefseegarnelen und eine ganze Reihe anderer Tiere an ihm und Lucy vorbeigekommen – alle auf dem Weg nach oben, um dort im Schutz der Dunkelheit zu jagen.
Es knisterte kurz in der Verbindung, dann hörte er Billie: »Leon? Leon, bist du da?«
Es war ein Geschenk, ihre vertraute Stimme zu hören. Leon debattierte kurz mit sich, ob es klug war, ihr zu antworten, doch dann schaffte er einfach nicht, zu schweigen. »Ja. Bin ich.«
»Wir vermissen dich. Geht es dir und Lucy gut?«
»Ja. Irgendwie schon.«
»Gott sei Dank.« Ein kurzes Zögern. »Wir sind inzwischen auf der Thetys und haben mitgekriegt, dass du abgehauen bist. Was hast du jetzt eigentlich
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